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Schon früher
Kinder gequält

Vorwürfe gegen Jessicas Mutter

Hamburg (dpa). Die Mutter der in Hamburg qualvoll verhungerten siebenjährigen Jessica hat schon früher eigene Kinder vernachlässigt. Nach Berichten von »Spiegel« und »Focus« hatten sowohl eine Tante der 35 Jahre alten Frau als auch ihr Ex-Mann vor 14 Jahren und auch 1999 die Behörden darüber informiert.

Die in Untersuchungshaft sitzende Mutter habe bereits ihren ersten Sohn Andre in einem abgedunkelten Zimmer eingesperrt. »Der Kleine sah übel aus und war total verstört«, sagte die Tante. Der damals acht Monate alte Junge sei dann zu Adoptiveltern gekommen.
Auch der frühere Ehemann der 35-Jährigen berichtete von Vernachlässigungen bei den gemeinsamen beiden Kindern. »Sie kümmerte sich nicht um die Kleinen, wechselte keine Windeln, kochte kein Essen«, sagte er dem »Focus«. Schließlich habe er sich scheiden lassen und das Sorgerecht bekommen. Der Mann wirft den Behörden Untätigkeit vor, denn er habe bereits 1999 das Jugendamt informiert. Der Sprecher der Hamburger Sozialbehörde, Rico Schmidt, sagte, die alten Fälle seien abgeschlossen gewesen. Deshalb finde sich in den Akten kein Eintrag dazu.
Jessicas Mutter hatte am vergangenen Dienstag einen Notarzt gerufen, weil das Mädchen leblos im Bett lag. Die Obduktion ergab, dass die Siebenjährige an Erbrochenem erstickt war. Sie hatte einen Darmverschluss und konnte deshalb das Essen, das sie offenbar nach langem, zwangsweisem Fasten erhalten hatte, nicht bei sich behalten. Außerdem war das Kind bei nur noch 9,5 Kilogramm Körpergewicht völlig ausgetrocknet.
Der ärztliche Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Peter Riedesser, sagte dem »Spiegel«: »Das ist aktive Folter, keine Vernachlässigung, und nur damit erklärbar, dass die Eltern als Kinder selbst schwer traumatisiert wurden.« Nach Polizeiangaben hatten die Mutter und der ebenfalls inhaftierte 49 Jahre alte Vater bei ihren Vernehmungen jedes Schuldbewusstsein vermissen lassen. Die 35-Jährige beteuerte, sie habe ihrer Tochter Essen angeboten. »Wenn sie nicht essen will, was soll ich dann tun?«, habe sie gesagt.
Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust (CDU) hatte nach dem Tod des Mädchens am Dienstag volle Aufklärung der Verantwortung in den Behörden gefordert. Der Sprecher der Schulbehörde, Alexander Luckow, wertete den Vorfall als »fatalen und tragischen Irrtum«. Ein Mitarbeiter hatte das Nichterscheinen des Mädchens zur Einschulung im August 2004 nicht dem Jugendamt gemeldet. »Es war ein tragischer Irrtum eines Mitarbeiters vor Ort«, sagte Luckow. Der Mann habe nach eigenem Ermessen lediglich den Eltern einen Bußgeldbescheid geschickt, weil sie Jessica nicht eingeschult hatten.

Artikel vom 07.03.2005