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Haftbefehl: Eltern lassen
ihr Kind verhungern

Siebenjährige wurde wie eine Gefangene gehalten

Hamburg (WB/dpa). Das verhungerte siebenjährige Mädchen aus Hamburg ist von seinen Eltern vermutlich wie eine Gefangene gehalten worden. Gegen die 35-jährige Mutter und den 49 Jahre alten Vater erging gestern Haftbefehl wegen »gemeinschaftlichen Totschlags durch Unterlassen«.Ermittler sichern Spuren in der verwahrlosten Wohnung.
Nach den Erkenntnissen der Polizei war das bis auf 9,5 Kilogramm abgemagerte Kind in der Hochhauswohnung völlig isoliert von der Außenwelt aufgewachsen. Die Nachbarn hatten offensichtlich nichts von der Existenz des Mädchens gewusst, sagte ein Polizeisprecher. Am Dienstag hatte ein Notarzt nur den Tod des Kindes feststellen können.
Die Mutter hatte am Dienstag die Rettungskräfte alarmiert, nachdem ihre Tochter ins Koma gefallen war. Das Kind erstickte an Erbrochenem, wie das Instituts für Rechtsmedizin am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf feststellte. Das Mädchen hatte wahrscheinlich lange Zeit kaum etwas zu essen oder zu trinken bekommen. Die Mordkommission nahm Ermittlungen gegen die Eltern auf, die noch am Dienstag festgenommen wurden.
Das arbeitslose Paar lebte seit Jahren mit der Tochter in dem Hochhaus. Das Jugendamt hatte mit dem Fall nach Angaben eines Behördensprechers bisher nichts zu tun. Allerdings sei die Mutter im vergangenen August der Aufforderung, das Mädchen einzuschulen, nicht nachgekommen, hieß es. Die Schulbehörde habe deswegen ein Bußgeldverfahren wegen Schulpflichtverletzung eingeleitet. Es habe keinen Hinweis gegeben, dass das Kind in Gefahr gewesen sei.
»Das Kind hat einen unvorstellbar grausamen Tod erlitten«, sagte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Britta Ernst und fordert eine restlose Aufklärung des Falles. Es müsse eine »klare Antwort auf die Frage geben, ob der Tod des Kindes hätte verhindert werden können. Dabei geht es auch um die Frage, ob sich staatliche Stellen etwas vorzuwerfen haben.« Michel-Hauptpastor Helge Adolphsen beklagte im »Hamburger Abendblatt«: »Dieser Fall zeigt, wie groß die Anonymität und das Desinteresse unter den Menschen ist. Er muss uns wachrütteln.«
Die Kinderschutz-Expertin Ilse Burfeind rief zu mehr Zivilcourage auf. »Wenn auch nur der geringste Verdacht besteht, dass ein Kind in Gefahr ist, müssen wir uns einmischen«, sagte die Leiterin der Hamburger Arbeitsgemeinschaft »Kinder und Jugendschutz«. Allein in Pflegefamilien und Heimen in Hamburg lebten rund 1000 Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt oder misshandelt wurden. Die Dunkelziffer sei hoch.
Der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) hat sich im Hinblick auf dem Todesfall in Hamburg für mehr vorbeugende Maßnahmen in Familien ausgesprochen. Das soziale Netz werde immer dünner, sagte die Sprecherin des DKSB-Bundesverbandes, Gabriele Wichert, dieser Zeitung. Es sei fatal, dass Städte und Gemeinden soziale Hilfsangebote aus Kostengründen streichen würden. Diese Lücke könne der Kinderschutzbund allein nicht schließen.
www.dksb.de

Artikel vom 03.03.2005