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Nach der Lektüre fängt
die Arbeit erst an...

Kempowski hat letzten »Echolot«-Band vorgelegt

Von Thomas Borchert
München (dpa). Walter Kempowski hat sein Mammutwerk »Echolot« über den Zweiten Weltkrieg vollendet.

Im zehnten und letzten Band der gigantischen Collage aus Tagebucheintragungen, Briefauszügen, autobiografischen Erinnerungen, Zeitungsartikeln und Interviews macht der 75-jährige Autor vier der allerletzten Kriegstage zwischen dem 20. April und dem 9. Mai 1945 so überwältigend lebendig, wie das keinem noch so guten Geschichtsbuch oder auch inszenierten Spielfilmbildern gelingen kann. Überwältigt, erschüttert, fasziniert, aber auch befremdet und ratlos wird man von Kempowski nach 450 Seiten Höllenfahrt durch unendliches Leid, unendliche Bosheit und unendliche Dummheit mit einem unbegreiflichen, banalen Schlussakkord verabschiedet: einer Röntgenaufnahme von Hitlers Schädel.
Schilderungen des 20. April 1945, Hitlers 56. und letztem Geburtstag, füllen die ersten hundert Seiten. Eine Lydia Tilgner notiert: »Strahlender Frühlingsmorgen, die ersten Kirschen blühen.« Die Schinderei eines aus dem Fenster zu sehenden ukrainischen Soldaten in ihrem Garten bereitet der Tagebuchschreiberin Gewissensbisse. In einem Bunker tief unter dem zerstörten Berlin fällt Hitlers Sekretärin Christa Schroeder »während des Essens gedrückte Stimmung« auf, obwohl der Führer doch Geburtstag hat.
Kempowski hat die Eintragungen unbekannter und bekannter Zeitzeugen für diesen Tag und drei weitere raffiniert montiert. Eindeutig dabei sein Bestreben, dem Leiden von Opfern Ausdruck zu verschaffen. Ein mächtiges, aber mitunter fast unerträgliches Wirkungsmittel ist der stete Wechsel zwischen der Schilderung unermesslicher Leiden und dem (ungewollten) Ausdruck von komplettem Wahnsinn, Dummheit, Boshaftigkeit sowie Dreistigkeit von Tätern bis zur letzten Minute.
Im »Echolot« wird ansonsten wenig reflektiert. Ausführlich und für dieses Buch wohl zu ausführlich kommt auch mit seinen Wahnsinnsgedanken der letzten Tage Hitler zu Wort. Es tut weh, dass Kempowskis mächtiges Zeitgemälde von diesem Mann auch in der Autorenrolle mehr geprägt wird als zum Beispiel von Alisah Shek. Die 1927 geborene Tochter eines Prager Bauingenieurs schreibt nach der Befreiung aus dem KZ Theresienstadt zwei unermesslich traurige Sätze: »Die Dinge offenbaren sich alle in ihrer Sinnlosigkeit. Und das gerade jetzt, nach einem endlosen Dahinsterben, zwischen unserem 12. und 18. Lebensjahr.«
Als Ziel seiner Sammelwut von Zeitzeugnissen aus dem Zweiten Weltkrieg definierte Kempowski am 19. März 1978, »diese auf Büchsen gezogene Erfahrung speichern und der Gesellschaft nutzbar machen«. 26 Jahre später kann der Autor mit Fug und Recht sagen, dass er sein Ziel erreicht hat. Für den Leser fängt die Arbeit nach der Lektüre erst an.

Artikel vom 02.03.2005