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Der ganz normale Wahnsinn

Kult-Autor Wladimir Kaminer ließ in Bielefeld sein »R« rollen

Bielefeld (bp). Er kultiviert sein Russisch, genauer: seinen russischen Akzent. Und er liest nicht - er spielt. Wladimir Kaminer, der Erfinder der »Russendisko« und inzwischen hoch gelobter Autor von inzwischen acht Büchern, war bei »Boulevard« am Jahnplatz zu Gast. Und das ist Kult.

Geschäftsführer Tom Kirsch kennt Kaminer gut, sehr gut: »Seit sechs Jahren - damals war er in unserer Buchhandlung in Dresden. Gut zehn Lesungen hat er in einem unserer Geschäfte inzwischen gemacht.« Immer vor ausverkauftem Haus - wie gestern Abend auch.
Aus seinem letzten Buch »Ich mache mir Sorgen, Mama« las Kaminer nicht. Er hatte einen Stapel Manuskripte dabei, unveröffentlicht und scheinbar ungeordnet: »Ich lese lieber daraus - aus dem Buch habe ich inzwischen sicher schon tausend Mal vorgelesen, das kann ich auswendig. Aber es ist ein sehrrrr gutes Buch, wirrrrklich!« Und in ein paar Jahren, da würde er es gern mal wieder zur Hand nehmen, wirrrklich!
Lese-Deutschland kennt inzwischen seine Familie - die Eltern, die Tante, seine Frau Olga, die beiden Kinder Sebastian und Nicole und Marfa, die Katze. Die Kaminer-Gemeinde kann all die kuriosen Erfahrungen nachvollziehen, die diese Familie macht. Deutschland blickt Dank Kaminer auch Berlin mit anderen Augen an - längst hat sich der Schriftsteller aber auch Rest-Deutschland vorgenommen: Osnabrück, Northeim, Rotenburg an der Wümme, Waldbröl und - bislang unveröffentlicht - Mannheim.
Gestern war er, wie gesagt, in Bielefeld. Wahrscheinlich hat er auch jede Menge Skurriles entdeckt, dass er verarbeiten kann. Mit Sicherheit!
Die deutsche Provinz, die gibt in Kaminers Augen nämlich viel her.
Dieser Blick von außen bringt die Zuhörer (und natürlich die Leser) zum Schmunzeln, zum Kichern, zum Lachen.
Russen kommen eher selten in seine Lesungen. Schließlich schreibt Kaminer über Deutschland. Mit Witz und hintergründigem Charme. Mit Ironie und so, dass sich jeder darin wiederfinden kann - irgendwie. Oder doch zumindest jemanden kennt, der sich darin wiederfinden könnte. Das nämlich ist das Verdienst des Schriftstellers: Der Alltag erscheint neu - und eigentlich gar nicht so schlimm wie wir alle dachten. Man muss nur drüber lachen können. Trulala ist überall. Demnächst sicher auch in Bielefeld.

Artikel vom 03.03.2005