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Alkoholtrip ins Irgendwohin

Das »Ensemble zu spät« spielt Theater im einstigen »Movie«-Kino

Von Matthias Meyer zur Heyde und Bernhard Pierel (Foto)
Bielefeld (WB). Was macht ein junger Russe, der zu seiner Braut fährt? Er trinkt. »Die Reise nach Petuschki« wird ein Alkoholtrip ins Irgendwohin.

An ungewöhnlichem Ort, im alten »Movie«-Kino im Leinenmeisterhaus, hat das Schauspiel nach einem Roman von Wenedikt Jerofejew an diesem Freitag Premiere. Georg Boese (35), zwei Jahre lang Regieassistent am Bielefelder Theater, bearbeitete das Stück für die Bühne. Neben der ausgebildeten Tänzerin Christina Pohlmann (33) agieren drei schauspielerische Laien vor den 60 Zuschauern, die das »Movie« fasst.
Boese wählte Jan Osterkamp (38, Sozialarbeiter), Ralf Ostholt (35, Computerexperte) und Holger Löffeld (40, Altenpfleger) bei einem Casting aus. »Der Romanheld ist 30 Jahre alt, und ich brauchte Darsteller mit entsprechender Lebenserfahrung, die einen Zugang zur Welt des Ich-Erzählers finden würden«, erklärt Boese seine Auswahl. Dieses Quartett, Regisseur Boese sowie die Bühnenbildner Franziska Wildt und Sebastian Weimann bilden das aktuelle »Ensemble zu spät«, das 1999 in Leipzig gegründet wurde.
»Mehr als ein paar Flaschen und ein Reiseköfferchen brauchen wir nicht als Requisiten«, sagt Boese, den vor sechs Jahren urplötzlich die Liebe zur Bühne packte und nie wieder losließ. »Ich mache zwar Frontaltheater, rücke jedoch das Publikum ganz nah ans Geschehen heran und zeige ihm das typisch Russische, das da lautet: ÝHier ist meine Seele, ich gebe mich euch - aber umgekehrt ihr sollt euch auch mir geben.Ü«
Gemeinsam treten Zuschauer und Künstler eine Reise an, eine doppelte, denn auf einer zweiten Ebene neben der Bahnfahrt ziehen im Kopf des Trinkers individuelle Bilder und Landschaften vorbei. Das Bühnenbild illustriert dies: Zu sehen sind Kameraaufnahmen einer echten Bahnfahrt, die nachträglich verfremdet wurden.
Wenedikt Jerofejew, der Autor der Romanvorlage, wurde 1938 in Sibirien geboren und starb 1990 an Kehlkopfkrebs. Der unangepasste Intellektuelle geriet wiederholt in Konflikt mit dem Sowjetsystem, so dass er sich als Gelegenheitsarbeiter durchs Leben schlagen musste. Seine subversiven Texte genießen in Russland Kultstatus, und vor dem Kursker Bahnhof, wo die »Reise nach Petuschki« beginnt, hat man ihm sogar ein Denkmal errichtet.
Boese, der bevorzugt selten gespielte Stücke auf die Bühne bringt, wurde auf Jerofejew durch die Solokünstlerin Gilla Cremer aufmerksam. Gilla Cremer trat im TAMoben mit dem Stück »Meeresrand« hervor, und ein ähnlich experimentierfreudiges, aufgeschlossenes Publikum wie im TAMoben hofft Boese auch mit seiner Inszenierung zu erreichen.
l Die Premiere ist bereits ausverkauft, aber zu den vorläufig geplanten drei weiteren Aufführungen am 9., 11. und 16. März, jeweils um 20 Uhr gibt es noch Karten per Internet (www.petuschki.info). Bei großer Nachfrage könnte das Stück auch öfter gezeigt werden, hat Volker Skopp, der kulturfreundliche Betreiber des »Movie«, signalisiert.

Artikel vom 01.03.2005