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Mit jedem Schritt an Bord spüre ich den ungewohnten Seegang und bin mir sicher, dass ich spätestens morgen das Gefühl für den Rhythmus des Tanzes wieder in den Knien haben werde. An der Backbordseite erkenne ich im milchigen Licht am Horizont gerade noch die Küstenlinie Andalusiens.
Kapitän de Bazán wandert auf dem Quarterdeck auf und ab, als ich genau gegen sechs Glasen der Mittagswache das Halbdeck betrete. Ich habe schon bei meiner letzten Reise herausgefunden, dass die Steuerbordseite des Quarterdecks dem Kapitän vorbehalten ist. Diese Freiheit beraubt ihn zwar jeglicher Gesellschaft, sichert ihm aber ruhige Momente und schützt ihn vor geschwätzigen Passagieren É Als einzige Höflichkeitsgeste erlaube ich mir ein kurzes Nicken.
Mein Blick zum Bug hin erfasst das Oberdeck, auf dem sich Passagiere, einige Seesoldaten und Männer der Freiwache drängen, während das Backdeck von den Kanonieren besetzt gehalten wird, die sich offensichtlich noch vom morgendlichen Geschützexerzieren erholen. Mich wundert, dass ich niemand vom Tross des Herzogs auf dem Halbdeck antreffe, obwohl dieses ausschließlich für mich und die edlen Herren reserviert ist É
Indes höre ich hinter mir durch das Gat die bellende Stimme des Steuermanns. Sie tönt vom Quarterdeck herunter. Es ist eine Kurskorrektur, die er durch ein Gräting den beiden Rudergängern direkt unter ihm zuruft. Die niedrige Hütte, in der die wichtigen Seeleute ihren Dienst an der Pinne versehen, gewährt den Männern einen Ausblick nach vorn zum Bug, während sie durch die Gräting über ihnen das Unterliek des Großsegels beobachten müssen, um zu kontrollieren, ob das Segel am Wind steht. Vor den Rudergängern befindet sich das Nachthaus mit Lichtern, Stundenglas und Kompass, nach dem sie den Kurs steuern.
Ich lehne mich mit dem Rücken gegen den vibrierenden Großmast, um die wärmenden Sonnenstrahlen, die etwas schräg vom Heck her einfallen, zu genießen. Die Augen geschlossen, spüre ich die Verbeugung der Nuestra Señora de Atocha vor der Kraft des Windes, die sie zur Backbord- und wieder zurück zur Steuerbordseite vornimmt. Ich höre das Knarren und Ächzen durch alle Decks, das einmal lauter und manchmal wieder etwas schwächer an meine Ohren dringt.
In diesem Augenblick bin ich mit mir und der Welt wieder versöhnt. Dazu trägt auch mein Bündnis mit dem Kapitän bei. War er doch begeistert von den ersten spontanen Skizzen, die ich von seinem Konterfei mit dem Kohlestift während des gestrigen Abendessens in seiner Kajüte entwarf.
»Großartig! Auch wenn das spanische Königreich in Trümmer geht, Señor Velázquez, malt mich, als ob ich Kurs nehme auf das goldene Zeitalter!«, begeisterte er sich in einer geradezu vulkanischen Art, mit der er auch den ganzen Abend über von seinem Leben und seiner Freude an Gefahren und Abenteuern erzählte. Allerdings hatte ich manchmal den Eindruck, er rüttelte an den eigenen Gittern, da sein Tonfall wie der Schrei eines gefangenen Adlers klang. Dabei habe ich schnell herausgefunden, dass de Bazáns Temperament eine Drehung der Figur erfordert und sein Gesicht in Frontalansicht am suggestivsten wirkt. Ich werde ein Bildnis malen, das seinen Status zur Schau stellt und doch so spontan sein Wesen mitteilt, dass ihn bei dessen Anblick ein unaussprechliches Wohlgefallen ergreifen wird. Eines, das ihn über alles, was ihn quält, hoch hinausheben wird. Morgen schon soll die erste Sitzung zu seinem Bildnis stattfinden É
Während der Boden unter meinen Füßen eine Veränderung des Seeganges verspüren lässt, verharre ich am Großmast, bis mich die Schiffsglocke gegen acht Glasen der dritten Wache aus meinem Tagtraum reißt. Ich löse mich vom Mast und drehe mich in Bugrichtung, um den Aufgang im Blickfeld zu haben. Der Wein des Kapitäns hat zwar meine dunklen Ahnungen über Nacht verdrängt, doch schon beim Erwachen stürmten die Fragen wieder auf mich ein: Warum wollte Barojo, dass ich in seine Kajüte komme? Was hat er mir zu sagen? Was will er von mir É?
Kaum dass mir die Fragen erneut durch den Kopf gehen, erblicke ich seinen Schopf, der über die Planken des Halbdecks ragt. Im selben Moment rollt eine hohe Welle unter dem Rumpf der Galeone hindurch. Für mich ein Gefühl, als ob die Welt aus den Angeln gehoben würde. Zuerst wird das Heck wie durch eine Riesenfaust nach oben gestemmt. Daraufhin neigt sich der Rumpf entlang der Längsschiffsachse stark nach Steuerbord, verweilt in dieser Lage für eine kleine Ewigkeit, bevor er sich wieder aufrichtet, während gleichzeitig der Bug angehoben wird. Danach krängt die Atocha stark zur Backbordseite hin, während die nächste Welle das Heck wieder anzuheben beginnt. Ich habe Mühe, mich auf den Beinen zu halten, derweil sich Barojo, weiß wie ein Leinentuch, verzweifelt an den Handlauf des Aufganges klammert. Gerade als sich der Rumpf der Galeone wieder aufrichtet, hechtet er auf das Deck, robbt mit kalkweißem Gesicht zum Schanzkleid, wo er sich erneut festklammert und sich dann zur Seeseite hin heftig würgend erbricht.
Mit seinen X-Beinen, den Hängeschultern und den nach außen gerichteten Füßen hat er eher Mitleid verdient als Ächtung. Doch trotz seines Zustandes will ich meine boshafte Freude nicht zügeln und wanke daher hinüber auf die andere Seite. Ich blicke in ein graues Gesicht mit vorquellenden Augen, aus dessen verzerrten Mund ein dünner Speichelfaden rinnt. Wie ein Prophet erhebe ich meine Hand. »ÝVor den stillen Wasser schütze mich Gott, denn vor dem wilden werde ich mich hüten!Ü« zitiere ich einen alten Seemannsspruch aus Sevilla.
Mühsam richtet sich Barojo auf und glotzt mich mit dem jämmerlichen Ausdruck eines Kalbes an, das fürchtet, geschlachtet zu werden.
»Die É großen Fische É fressen É die kleinen«, keucht er seine Antwort.
Daraufhin stelle ich mich breitbeinig vor ihn hin und tue so, als wären meine Beine auf den Decksplanken festgewachsen. »Was wollt Ihr von mir?«
Seine rotumränderten Augen sehen an mir vorbei. Ohne mich umzudrehen spüre ich, dass er den Kapitän oben auf dem Quarterdeck entdeckt hat. Kurz darauf fixiert er wieder meine Augen. Seine Stimme krächzt: »Ich habe mit der Sache in Malaga nichts zu tun!«
»Wer dann? Wer ist es, der mir so übel mitgespielt hat?«
»É zum Teufel!«, kommt es keuchend aus seinem Mund, und schon krümmt ihn das nächste Würgen. Die Seekrankheit hat ihn - wie auch meinen Esquivel und offenbar auch die übrigen Herren - fest im Griff. Kaum dass er sich mit dem Ärmel seines fleckigen Capes, das er wie einen Übermantel trägt, über den Mund wischt, suchen seine Augen wieder die meinen: »Habt Vertrauen! Ihr habt nichts mehr zu befürchten. Ich werde dafür sorgen É«
»Wer will verhindern, dass ich nach Genua gelange?«, unterbreche ich ihn.
»Niemand will es«, kommt es zurück.
»Ihr seid es doch gewesen É im Auftrag des Herzogs!«
»Hütet Eure Zunge! Ihr habt keine Beweise«, zischt er giftig zurück.
»Warum wollt Ihr Euch dann bei mir rein waschen?«
»Ich fürchte um mein Leben.«
»Seid Ihr betrunken oder gar verrückt? Lasst mich mit solchen Späßen gefälligst in Ruhe!«
Wieder würgt es ihn: »Gut É gut É Der Herzog möchte Frieden an Bord. Ihr habt mächtige Verbündete É«
»Sagt dem Herzog, er soll sich den Anordnungen des Kapitäns unterordnen und mich bei meiner Mission - wie vom Hofe Madrids gefordert - unterstützen.«
»Das tut er É das will er É«
»Davon ist nichts zu spüren.«
»Jetzt da klar ist É will er Euch ein Angebot machen.«
»Ein Angebot? Mir?«
»Ja!«
»Lasst hören É«
»Setzt Euch beim Kapitän dafür ein, dass wir bessere Kajüten beziehen können. Außerdem schlägt Euch der Herzog einen Tausch vor. Wenn Ihr ihm Eure Kajüte überlasst, wie es ihm angemessen ist É werdet Ihr dafür seine volle Unterstützung erfahren É«
»Gott lächelt auf den Herzog herab. Er gewährt ihm Barmherzigkeit und Sicherheit in jeder Koje«, sage ich mit großer Genugtuung, während die Galeone wieder mächtig überholt.
»Der Herzog É«, es würgt ihn erneut, »É hat bereits das graue Gesicht des Todes. Macht Euch nicht schuldig É«, stammelt er und eilt, grün im Gesicht, erneut zum Schanzkleid.
Plötzlich spüre ich eine Quelle grenzenloser Kraft - dazu eine angriffslustige Vitalität, wie ich sie noch nie zuvor erlebt habe. Ich trete nahe an Barojo heran, der gekrümmt über dem Schanzkleid liegt. »Sagt dem Herzog, ich erwarte ihn in meiner Kajüte. Da kann er mir endlich die Wahrheit beichten. Doch meldet mir rechtzeitig sein Erscheinen. Und Euch rate ich: Kriecht hinab unter das Orlopdeck bis zum Pumpensud! An jenem Ort ist es wahrhaft ruhig - bis auf die Gesellschaft der Ratten. Nur dort unten werdet Ihr von Eurer Seekrankheit frei sein.«
»Fahrt zum Teufel É!«, erwidert Barojo fast lautlos.
Als ich mich von ihm entferne, blicke ich hinauf zum Quarterdeck. Der Kapitän hat zweifellos alles beobachtet É
Die Sonne beginnt purpurrot hinter einer Wolkenbank zu versinken, die tief am westlichen Horizont dräut. Das Heck der Atocha glüht im Licht, als würden Flammen aus ihm züngeln.
»Señor Velázquez, mit dem Malen wird es morgen nichts werden!«, höre ich die Stimme des Kapitäns vom Deck herab. Auch sein Blick weilt auf der untergehenden Sonne.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.03.2005