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Ich starrte in den Schleier, aus dem jeden Moment das Schiff mit seinen Masten auftauchen musste.
»ÝDass du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen, vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittage verderbt ÉÜ«
Zu Tode erschrocken fuhr ich herum. Ein Mann stand hinter mir, der seine Worte mit einer gebieterischen Bewegung seines Armstumpfes unterstrich. Das Gesicht war breit und derb, doch die Augen blickten klar, aufmerksam und scharf hinaus auf das Wasser. »Seht nur, der Tod ist gastfrei, er fragt weder nach Alter noch Rang, er nimmt sich eines jeden an É«
»Wer seid Ihr, dass Ihr solche Reden führt?«, erwiderte ich, während sich seine Augen weiteten.
»Seht nur die Kreuze!«
Ich entfernte mich einige Schritte von dem Unbekannten und blickte wieder starr in den blassgrauen Dunst. Erst glaubte ich, einen riesengroßen Sarg mit Galgenbäumen zu sehen, der über das Wasser gezogen wird. Doch langsam traten die Umrisse eines großen Seglers klar hervor. Das Bugspriet ragte steil in den Himmel. Die Segel am Fock- und Großmast waren aufgegeit, während sie am Besan- und Bonaventuramast fehlten. Aus dem Dunst schälte sich langsam die Nuestra Señora de Atocha heraus. Ihr Rumpf schwamm ungewöhnlich hoch über der Wasserlinie auf, was ich darauf zurückführte, dass sie nur unter Ballast vor Anker gelegen war. Doch sie war ein großer, bewaffneter Kauffahrer von gut fünfhundert Tonnen. Der Segler war doppelt so groß wie die San Pedro, auf der ich vor gut zwanzig Jahren meine erste Reise nach Italien gemacht hatte. Sein Rumpf glich einem plumpen Holzschuh auf dem Wasser, die Niedergänge denen von Mauselöchern und die Kajüten groben Holzverschlägen, durch die jedes Geräusch und jede Feuchtigkeit drang. Ich wusste aus den Erfahrungen meiner ersten Reise, dass das Leben auf einem Schiff nur dann erträglich blieb, wenn der Platz unter Deck es auch war. Unabhängig von Größe und Mächtigkeit eines Seglers waren die Zustände sonst überall gleich É
Im achtern Bereich des Schiffes bis zum Großmast, unter der Kuhl mittschiffs und im Vorderkastell lagen die Kajüten und Decksplätze für Kapitän, Offiziere, Gäste und Mannschaft verteilt. Die Quartiermeister verkauften den knappen Decksplatz in ihrem Bereich dazu noch an zahlende Passagiere. Es gab kein gemeinsames Deck für alle. Der kleinste geschützte Platz wurde vergeben, zugeteilt oder verkauft. Ich wollte daher um jeden Preis verhindern, dass es mir oder Esquivel und Juan so erging wie einem Passagier damals auf der kleineren San Pedro, der nicht in der Lage war, einen Platz zu bezahlen und daher die Woche auf dem oberen Deck verbringen musste. Er war dort ständig Wind und Wetter ausgesetzt. Nachts trampelten die Matrosen auf ihm herum, und zusammen mit weiteren Entbehrungen kostete es ihn noch vor Erreichen Italiens das Leben. Ich traute daher niemandem an Land und keinem Papier in meiner Hand. Der Einzige, auf den es ankam und dessen Wort zählte, war Kapitän de Bazán É
Die Stille im Hafen wurde nur durch die Kommandos und das Ächzen der rudernden Männer unterbrochen. Meine Augen suchten das Halbdeck und das Quarterdeck, auf dem ich den Kapitän des Schiffes vermutete. Alvaro de Bazán wusste davon, dass ich ihn sofort nach dem Anlegen an der Mole sprechen wollte. Über einen kleinen Küstensegler, der die Versorgung der Galeone die Wochen zuvor bewältigt hatte, war es mir mithilfe einiger goldglänzender Münzen gelungen, dem Kapitän einen Brief zu übermitteln. Er ließ mir seine Antwort auf gleichem Wege zukommen, worin er sich sehr erfreut zeigte, mich bald als Passagier auf seinem Schiff willkommen heißen zu dürfen. Wie sich herausstellte, kam er wie ich aus Sevilla. Meine Familie war ihm bekannt, ebenso die Werkstatt meines Schwiegervaters. Wie ich in Erfahrung bringen konnte, hatte sein Großvater einen Teil der alliierten Galeerenflotte gegen die Türken bei Lepanto befehligt, was seiner Familie Ruhm und Anerkennung brachte.
Sobald die Atocha am Kai vertäut wurde, erwachte plötzlich das Leben im Hafen. Als ein Mann mit einem roten, breitkrempigen Hut und einem dicken Federbusch versehen an die Galerie trat, um das Festmachen zu beobachten, rief ich ungeniert meinen Namen und bat um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen. Auf sein Zeichen hin wurde von der Kuhl ein Fallreep herabgelassen, über das ich an Bord kletterte.
Ich fühlte mich an meine Kindheit erinnert, als ich mich im Hafen von Sevilla vor Neugier an Bord aller möglichen Schiffe schlich, um zu beobachten, was alles aus ihren Bäuchen gehievt wurde. Ehrfurchtsvoll stand ich damals oft vor den schweren bronzenen Kanonen und versuchte das Wirrwarr der Takelung zu verstehen. Doch am liebsten enterte ich auf. Kein Mast war mir zu hoch É
Das Schiff machte einen hervorragenden Eindruck auf mich. Die Planken waren blitzblank gescheuert, das stehende und laufende Gut schien gut gepflegt und die Mannschaft diszipliniert, da sie sich auf den Decks geordnet versammelt hatten. Befehle wurden ausgegeben. Ein Blick hinunter auf den Kai überzeugte mich davon, dass ich nicht zu früh aufgestanden war. Reiter der Eskorte des Herzogs von Nájera erschienen plötzlich auf dem Hafengelände. Eines der Pferde galoppierte heran, wieherte und stieg in die Höhe. Der Reiter deutete herauf und schrie etwas den Männern zu. Ich erkannte ihn sofort. Es war Pio Barojo. Das Fallreep wurde hinter mir wieder eingeholt. Die Tatsache zauberte ein zufriedenes Lächeln in mein Gesicht.
Ich folgte einem Morinho auf das Halbdeck und entdeckte kurz darauf Kapitän de Bazán an der Steuerbordseite. Langsam drehte er sich um. Er war völlig in Rot gekleidet bis auf die schwarz glänzenden Lederstiefel. Auf seinem Überwurf erkannte ich die aufgestickten Schwingen eines schwarzen Adlers. Bazán war etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein schlanker, drahtig und zäh wirkender Mann. Trotz der langen Quarantäne schien er voller Tatkraft zu sein. Der große Hut ließ sein wettergegerbtes Gesicht schmal aussehen. Er musterte mich lächelnd von oben bis unten, bevor mich seine dröhnende Stimme an Bord begrüßte. »Ich freue mich, Señor Velázquez, Euch unter den Lebendigen zu sehen!«
»Ich É ich war nie tot«, erwiderte ich irritiert.
»Leichtbeflügelt zu Gott, und bis zum Ende der Tage wird nicht nur der gläubige Seemann niedersinken, ergriffen von den Wundern der Allmacht!«, dröhnte seine Stimme erneut, während sein Gesicht immerfort lächelte.
»Ihr habt meinen Brief erhalten?«
»Ich habe viele Briefe erhalten. Unverschämte Briefe, langweilige Briefe, interessante Briefe, Briefe, die ich ungelesen verbrannte É«
»Capitán, ich bin gekommen, um Euch zu bitten, die Anordnungen unseres Königs zu É«
»É spart Euch Eure Worte!«, unterbrach er mich lächelnd und fuhr fort: »Die Schreiben, entsprungen aus den unterschiedlichsten Federn, waren äußerst aufschlussreich für mich, Señor Velázquez. Kurz gesagt: Man gibt sich viel Mühe, um zu verhindern, dass Ihr an Bord geht.«
»Wer will das verhindern? Wer spinnt die Intrigen?«
»Ihr könnt Euch keinen Reim darauf machen?«
»Ich kann nur vermuten, wer dahinter steckt«, erwiderte ich und blickte immer noch in ein lächelndes Gesicht. Im gleichen Augenblick fiel mir auf, dass de Bazán nach oben gezogene Mundwinkel hatte. Tatsächlich sah es so aus, als würde er unentwegt lächeln. Damit vermittelte er einem Freude und Heiterkeit, ohne es sicher zu beabsichtigen. Jedenfalls fühlte ich mich von dieser unbeabsichtigten Daseinsfreude fast magisch angezogen.
»Dann werdet Ihr schon richtig vermuten. Jedenfalls befinden sich Ross und Reiter ganz in unserer Nähe É«
Ich blickte zu Steuerbordseite hinab und bemerkte, wie Barojo wild gestikulierend zur Kuhl zeigte, schließlich von seinem Pferd abstieg und dabei mit seinem Stiefel in einen Haufen Pferdeäpfel trat.
»Ihr werdet mich unterstützen und meine Bitten einbeziehen?«, fragte ich etwas hastig.
»In der Tat! Ich werde es. Doch auch ich hege den einen oder anderen Wunsch É«
Bevor ich nach seinem Wunsch fragen konnte, versuchte der Merinho hinter meinem Rücken die Aufmerksamkeit des Kapitäns auf sich zu lenken. Doch dieser wippte kurz mit der Hand, was den Mann veranlasste, aus den Augen des Kapitäns zu verschwinden.
»Sind es Wünsche, die ich Euch erfüllen kann?«
»Wer sonst, wenn nicht Ihr, Meister Diego! Wisst Ihr, was mir in meiner Kapitänskajüte und über meinem Kamin in Sevilla fehlt, ist ein Bildnis von Velázquez«, sagte er unverblümt.
Ich hatte im Lauf der Jahre gelernt, schnell zu erfassen, ob Entscheidungen hinausgezögert werden konnten oder nicht. Als ich sah, dass ein Landgangsteg herangetragen wurde, der es Barojo ermöglichte im nächsten Moment ungehindert an Bord zu kommen, willigte ich ein. »Ihr sollt Euer Gemälde bekommen, Capitán.«
»Ihr bekommt die Kajüte gleich neben meiner und seid während der Überfahrt mein persönlicher Gast!«
»Welch eine Ehre! Ich weiß es zu schätzen É«
»Nein, die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Señor Diego. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr unbehelligt bleibt. Am besten wird sein, Ihr lasst schon morgen Euer Gepäck an Bord der Atocha bringen.«
»Was ist mit meinen beiden Begleitern?«
»Bringt sie mit an Bord. Seid versichert, sie werden annehmbar untergebracht.«
Zum Dank verneigte ich mich knapp. »Ich werde es veranlassen. Wann werden wir in See stechen?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.03.2005