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Noch nie habe ich entlang der Wege durch die Meseta eine solche Wandlungsfähigkeit der Farbe Grau erlebt wie in diesen Dezembertagen. Mehr als hundert Unterschiede nimmt mein Auge wahr: Wolfsgrau, Schimmelgrau, Silbergrau, Weißgrau, Perlgrau, Rauchgrau, Staubgrau, Fahlgrau, Kaltgrau, Wolkengrau - keineswegs öde und leer, weit entfernt davon. Nein, für mich ist dieser unbunte Eindruck längst zur Farbe meiner eigenen Nachdenklichkeit geworden. Grau ist jedes Mal etwas anderes. Wie hell oder dunkel ich es einschätze, hängt von der umgebenden Farbe ab. Grau neben Gelb wirkt ganz anders als Grau neben Braun. Das eine erscheint für mich farblich unbestimmbar, während die andere Kombination für mich mehr die Farbigkeit der Langeweile ausdrückt. Nichts am Grau scheint entschieden. Grau ist vermutlich die Farbe der Bescheidenheit, die ihren Charakter verhüllt É
Im selben Moment, in dem ich die erste Serpentine hinter mir gelassen habe, bringt die höher steigende Sonne im Osten die fast vertikalen Gesteinsschichten zum Glimmen. Auf den licht- und zartgrau wirkenden scharfen Graten leuchten plötzlich die gelborangen Flechten auf. Aufreizend wirkt nun die Kombination Grau-Gelb-Orange auf das Gemüt. Aus meiner Karte lese ich Los îrganos, und ich denke mir, dass sie den Namen in diesem Moment auch verdienen.
Mühsam geht es die steilen Kurven hinauf zum Pass.
»Auswärts nach Süden, einwärts nach Norden!«, so lautet die Regel am Pass von Despeñaperros; was heißt, alles, was auswärts Richtung Süden fährt, hat am Pass Vorrang. Gut achthundert Höhenmeter sind zu überwinden. Sechs Fuhrwerke sind vor uns ins Stocken geraten. Das an der Spitze schafft die Steilheit der Kurve nicht. Die Last auf dem Karren ist für die beiden Pferde zu schwer. Unruhig tänzeln sie hin und her, setzen zurück. Peitschen knallen. Derbe Flüche hallen von den Felswänden wider. An ein Überholen ist an dieser Stelle nicht zu denken.
»Das sieht nur aus der Ferne so niedrig aus, in der Nähe aber - da staunt man, wie hoch und steil das ist!«, ruft ein anderer Fuhrmann neben mir.
Die Ereignisse überschlagen sich. Ein hoch gewachsener, schlanker, sorgsam gekleideter Hidalgo, der anscheinend die drei mittleren Fuhrwerke kommandiert, reckt seine Adlernase gen Himmel, als wollte er ihr den Staub der Straße nicht zumuten. Auf sein Zeichen hin eilen aus seinem Tross entschlossene Männer mit schwarz gebrannten Gesichtern nach vorn und beginnen, ohne zu fragen, die Getreidesäcke vom blockierenden Karren zu ziehen. Erneut knallen Peitschen.
Wir sind abgestiegen und wollen unsere Pferde schnell entlang der steilen Abbrüche an der stehenden Kolonne vorbeiführen, als die Pferde des ersten Fuhrwerks plötzlich scheuen und zurücksetzen.
Ein dramatisches Gejohle setzt an.
»Greift in das Geschirr! O mein Gott! Es geht alles den Berg runter! Alles wird weggefegt!«, brüllt Adlernase außer sich. Schon scheuen die vier Pferde des zweiten Fuhrwerks und versuchen, zum Abgrund hin auszubrechen. Es fehlen auch die Holzklötze, die als Bremse dienen und mittels Stricken an die Räder herangezogen werden können. In wenigen Augenblicken rollt das hintere rechte Rad rückwärts über den Saumpfad hinaus. Die Deichsel bricht, der schwere Wagen rollt weiter rückwärts, die Pferde sind nicht mehr zu halten und bäumen sich in Panik auf, während der Wagen langsam zur Tiefe hin abzukippen beginnt. Entsetzliche Schreie gehen mir durch Mark und Bein. Menschen versuchen mit letzter Kraft, das Verderben zu verhindern, und werden mitgerissen. Eingehüllt in einer riesigen Staubwolke, begleitet von einer Lawine aus Geröll und Felsbrocken, verschwindet das Fuhrwerk samt Pferden polternd im Abgrund.
Das Entsetzen darüber ist schnell verflogen. Der Zorn aller richtet sich auf die Männer des ersten Fuhrwerks.
»Los, springt hinterher und helft, wie es die Pflicht eines jeden Christen ist!«, brüllt Adlernase mit schneidender Stimme. Als sich niemand rührt, zieht er seinen Degen. Während der eine noch schnell Säcke hinter die Räder seines Fuhrwerks bugsiert, sucht der andere verzweifelt nach einem Pfad, der ihn den Abhang hinunterführen soll. »Wollt ihr euch beeilen É!«, treibt der Hidalgo die Männer an.
Ich sehe mich einem Augenblick gegenüber, der menschliches Schicksal bestimmt. Mich schaudert. »Das ist deren Werk, nicht unseres!«, sage ich zu Juan, dessen Gesicht aschfahl ist, und gebe das Zeichen zum Weiterziehen.
»Wollen wir nicht helfen?«, zögert Esquivel.
»Es ist besiegelt. Das Schicksal hat entschieden.«
Nach einer weiteren Stunde queren wir endlich den Pass und erblicken den Salto del Fraile mit seinem Doppelgipfel.
»Von dort oben soll sich ein Mönch herabgestürzt haben«, sagt Juan beiläufig.
»Das passiert auf diesem Pass öfter. Vor allem stürzen hier die Hunde ab«, kontert Esquivel, wobei er auf die rätselhafte Bedeutung des Namens Despeñaperros anspielt. Mein Blick schweift unterdessen nach Süden, wo sich an den steilen Hängen verstreut immergrüne Eichen, Arven und Ölbäume anschmiegen. Passabwärts rauscht durch eine Schlucht der Guadalimar, der in der Ferne bald träge durch eine fruchtbare Ebene strömt.
»Eine Gegend für raue Männer und dunkle Taten!«, bemerkt Juan, der sich ebenfalls durch das Panorama beeindruckt zeigt.
»Das Vorspiel zum göttlichen Andalusien!«, antwortet Esquivel.
»Ab hier haben die Banditen das Sagen. Wir sollten unsere Waffen prüfen«, erwidere ich darauf und greife nach meinem Pistol. Kurz darauf blicke ich auf den westlichen Horizont, an dem eine dunkle Wolkenwand heraufzieht, und deute auf die Kimmung: »Seht nach Westen. Wir sollten uns beeilen. Das Wetter wird sich bis zum Abend ändern.«
Ich bin mir sicher, dass der Abstieg für die Pferde anstrengender ist als der Aufstieg. Gesteinsbrocken jeder Größe machen das Geläuf schwierig. Trotz der Kühle klebt Staub am Gesicht, an den Händen und dringt überall ein. Die südliche Seite der Passstraße ist mehr terrassiert, und manch ein Abschnitt führt über blanken Granit. Diese Stellen werden gehasst, da beim Aufstieg die schwer beladenen Maultiere rutschen und sich die Füße verletzen É
Ab und zu ist auf einem Felsblock mit einem Meißel ein Zeichen eingehauen, wie etwa eine Pyramide oder ein Kreis mit einem Punkt darin. Steinig wild ist dieser Abschnitt. Eine Reihe bis zur Grenze ihrer Tragfähigkeit beladener Wagen ziehen in Richtung Norden. Der Weg ist an dieser Stelle voll tiefer Furchen. Noch steht ihnen der Aufstieg bevor, doch die Ochsen und Maultiere schaffen es schon hier nicht, die Wagen hochzuziehen. Ich sehe, dass bei einem Maultier das Fleisch unter der Zunge vom Zügel zerschnitten worden ist, und auch um die Hufe ist es schlecht bestellt. Die Sachen müssen abgeladen werden. Ich wage nicht daran zu denken, welche Mühen es kosten wird, bis diese Leute über den Pass hinweg sind É
Nach mehr als zwei Stunden haben wir endlich eine kleine Ebene erreicht. Auch hier wohnen Menschen. An den Berghängen sehe ich Terrassen, auf denen in unermüdlicher Arbeit kleine Äcker entstanden sind. Dazwischen Stein- und Erdhütten; überall fasst das Leben Fuß. Wenig später erreichen wir eine Furt durch den mäandernden Guadalimar. Das Geröll und das mitgerissene Gehölz zeigen an, dass bei Hochwasser dieser Abschnitt unpassierbar sein dürfte. Unser Gespann muss diese Stelle schon durchquert haben, was mich freudig stimmt.
Der unbefestigte Weg wird nun etwas schmaler, während die Wasser, in zwei Arme geteilt, sich links und rechts der Landzunge unwiderstehlich und rauschend ihren Weg bahnen. Irgendwann muss also noch ein weiterer Übergang folgen. Ein gutes Dutzend kleiner Karren, von Menschen mit Schultergurten gezogen, kommt uns entgegen, und die Männer verlangen hartnäckig Almosen von uns. Mein Griff geht zur Waffe. Es wäre sicher nicht ratsam, an diesem Ort großzügig Münzen zu verteilen, wenn es auch qualvoll anzusehen ist, wie sehr ein Mensch sich schindet und schleppt, um etwas von einem Ort zum anderen zu bringen. Hinterdrein folgen, wiederum von Maultieren gezogen, hochbeladene Wagen, die mit Scheibenrädern versehen sind. Auch zusammengewürfelte Gespanne von Ochsen, Maultieren und Eseln sind zu sehen. Wir werden nach dem Zustand des Weges befragt und ob die Passstraße frei wäre. Bereitwillig geben wir Auskunft. Die Menschen nehmen die Schilderungen stoisch hin.
Hinter einer Biegung stockt das Vorwärtskommen. Auf dem Weg - es gibt ihn im Sinne des Wortes eigentlich nicht - wird das Reiten unmöglich. Vor einer unübersehbare Geröllfläche, angeschwemmt durch tosende Wasser, muss wohl auch jedes Fuhrwerk kapitulieren. Ich erkenne keine einzige Wagenspur, nur Steine, Steine, Steine É Es ist mir ein Rätsel, wie unser Gespann da hindurchkommen konnte. Sie müssen die Stelle jedoch passiert haben, zumal vorher kein einziger Abzweig auszumachen war.
Endlich, die Sonne hat ihren Zenit schon überschritten, stoßen wir auf eine alte Steinbrücke und damit wieder auf einen befestigten Weg. Der Guadalimar ist an dieser Stelle nicht sehr breit, jedoch tief und schnell. Weiter geht es nun über eine vorzügliche Straße, die mit ihrem Auf und Ab durch hügeliges Land führt.
Schließlich entdecke ich voraus, unter einer riesigen Eiche, eine stierblutrote Plane. Links und rechts davon stehen Pferde. Kein Zweifel, es ist unser Wagen.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.02.2005