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Mit pädagogischem Auftrag unterwegs: Gidon Kremer

Innovatives abseits der eingetretenen Pfade

Gidon Kremer und »Kremerata Musica« bei Pro Musica

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Ein sicheres Plätzchen in der Oetkerhalle ist dem beschert, der ein Abonnement auf die Pro Musica-Konzertreihe erworben hat. Generell empfehlenswert, lohnt ein Abo in dieser Saison besonders, geben sich die namhaften Musikinterpreten nur so die Klinke in die Hand. Selbstredend, dass auch Gidon Kremer und seine »Kremerata Musica« stark nachgefragt und ratzfatz ausverkauft waren.

Gidon Kremer als Violinist von Weltrang nutzt gezielt seine Meriten und seinen Namen, um gewissermaßen fördernd und erzieherisch auf den Musikbetrieb einzuwirken. Zum einen bringt er dem Publikum gerne neue Kompositionen, vornehmlich aus dem russischen und osteuropäischen Raum, nahe. Zum anderen setzt er sich für junge, talentierte Musiker ein. Neben der »Kremerata Baltica«, versammelt er in der »Kremerata Musica« den hochtalentierten Nachwuchs aus dem osteuropäischen Raum. Kongenial im Verbund mit ihrem Meister und Mentor, füllen sie die großen Konzertsäle.
Wer also erwartet hatte, den Geigenstar allein solistisch brillieren und wirken zu sehen, sollte eines Besseren belehrt werden. Kremer fügt sich mit kammermusikalischem Experimentier- und Pioniergeist ins wechselnd besetzte Ensemble. Nur einmal zollt er Tribut an seine charismatische Künstlernatur und gewissermaßen wohl auch an die Erwartungen des Publikums.
Johann Sebastian Bachs »Charconne« aus der Partita d-Moll für Solovioline ist zugleich das einzig etabliert Repertoire-Werk im ansonsten neoklassizistisch-experimentell angehauchten Werkekanon. Kremer durchmisst die gewaltige architektonische Anlage mit spieltechnischer Virtuosität und mit emotionaler Versenkung, ohne dabei die weite formaltechnische Partitur aus den Augen zu verlieren. Sein Spiel vereint klare Linienführung bei gleichzeitiger Intimität, Leidenschaft und Temperament. Dabei schöpft er das Klangspektrum seiner Guarneri weit aus, moduliert jeden Ton und jede kleinste musikalische Phrase mit nicht nachlassendem Spannungsgehalt und fesselt damit sein Publikum über die Dauer des ganzen komplexen Werks.
Im Anschluss überlässt er das Podium Ula Ulijona (Viola) und Andrius Zlabys (Klavier), die Dimitri Schostakowitsch letztes Werk op. 147 in einem Zwischenzustand von Abgeklärtheit und Wehmut präsentierten. Mit nicht nachlassender Konzentration und subtiler Ausdruckskraft durchmaßen die Interpreten den Dreisätzer, der leise, resignativ verhallte, zuvor nur im folkloristisch tänzelnden Allegretto Lebensfreude und Kraft aufzuweisen hatte und bereits zu Beginn mit einer sich steigernden Klage in betörend tiefem Vibratoton anhob.
Die zeitgenössische Kammermusik war mit Wladimer Kobekin (1947) vertreten, der Variationen über ein Bach-Thema in der ungewöhnlichen Kombination von Violine und Becken komponierte. Dem Geiger bietet das Stück Gelegenheit zu allerhand Affektgehalt. Und Kremer nutzt das Instrument, um in Imitation der menschlichen Stimme Zustände von Verzweiflung und Irrsinn zum Ausdruck zu bringen.
Anspruchsvolle Hörkost auch eine von Victor Derevyanko arrangierte Bearbeitung für Klaviertrio und Schlagwerk über Schostakowitschs 15. Sinfonie. Beeindruckend, wie hier Dunkelheit mit pointierter Heiterkeit und durchlichteter Spielfreude verbunden wurde, wie sich Witz und Ernst die Waage hielten, wie rhythmische Impulskraft mit thematischer Verstörung einherging. - Alles in allem sicherlich kein Konzertabend für den leichten Konsum, dafür aber einer mit innovativer Schlagkraft und einer betörend schwungvoll servierten Piazzolla-Zugabe für den Nachhauseweg.

Artikel vom 14.02.2005