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Daumenlutscher hat
ein zentrales Problem

»Thumbsucker« im Wettbewerb der Filmfestspiele

Von Klaus Gosmann
Berlin (WB). Während der Eröffnungsfilm der 55. Berlinale, »Man to Man«, exotisches Flair verströmte (Pygmäen, Afrika), behandelte der zweite Wettbewerbsbeitrag, »Thumbsucker«, ein wesentlich universelleres Thema: das Erwachsenwerden.

Ein Prozess, der - siehe Pygmäen - nichts mit körperlicher Größe zu tun hat, sondern vielmehr mit einem seelischen Reife- und Selbstfindungsprozess. Selbigen durchläuft in Mike Mills Spielfilm-Debüt ein US-Teenager namens Justin Cobb, glaubwürdig verkörpert von Lou Pucci. Justin ist 17, trägt eine Frisur, mit der er bei der Hamburger-Schule-Band »Tocotronic« sofort einen Stammplatz bekäme und hat ein Problem: Er ist ein Daumenlutscher (auf englisch: thumbsucker).
Sein Zahnarzt Perry Lyman (Keanu Reeves), der sich zusätzlich als Seelenklempner versteht, setzt ihn unter Hypnose und empfiehlt ihm, vor dem nächsten Rückfall an sein persönliches »Krafttier« zu denken: ein Reh. Doch offensichtlich versagt das scheue Tier als effizientes Energie-Emblem. Schließlich wird bei Justin ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert, woraufhin der Schüler mit Ritalin medikamentiert wird. Der vormals hyperschüchterne Träumer avanciert daraufhin zum Chef des Debattierclubs an seiner Schule und quasselt alle Mitschüler in Grund und Boden.
Seine Eltern, gespielt von der hinreißend verhärmten Tilda Swinton und Vincent D'Onofrio, stolpern selbstverständlich ebenso nicht gänzlich problemfrei durch ihr Ehe-Leben: Während Vater Mike seiner verpassten Football-Karriere nachweint, versucht seine Frau Audrey, ihr Helfersyndrom als Mitarbeiterin in einer Klinik an einem drogensüchtigen Schauspieler der Martin-Semmelrogge-Kategorie auszuleben. In den USA bezeichnet man derartige Familien ohne zu zögern als nicht funktional, in Deutschland würde man ein derartiges Verwandschaftsszenario einfach nur als das tragikomische Aufeinandertreffen zweier Midlife-Krisen mit den ganz alltäglichen, aber letztendlich lösbaren Horror des Heranwachsens beschreiben. Am Ende sind fast alle Beteiligten erwachsener als zuvor, und der Junge hat einen Studienplatz. So weit, so vereinfachend - und dennoch kommt diese neue Variation des »Fänger im Roggen«-Heranwachsenden-Themas bei Mike Mills mit einer Frische und Originalität daher, die über die allzu große Happy-End-Seeligkeit hinwegtröstet.
Übrigens handelt es sich bei Regisseur Mike Mills nicht um den gleichnamigen Bassisten der Rockband »R.E.M.«. Für Musik scheint er dennoch eine große Sensibilität mitzubringen, denn für die Filmmusik griff er unter anderem auf die Songs von Elliott Smith zurück, der auch bereits den Kino-Erfolg »Good Will Hunting« mit seinen fragilen Lied-Fragmenten veredelte.

Artikel vom 12.02.2005