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Leitartikel
Reformen und Ackermann

Was machen wir denn nur
alles falsch?


Von Bernhard Hertlein
Irgendwie machen wir alles falsch -Êwir, die Arbeitnehmer in Deutschland.
Jeden Tag bekommen wir es gesagt: Unsere Löhne sind nicht mehr konkurrenzfähig. Die Polen machen es billiger. Die Rumänen noch mehr. Und die Chinesen? Sie machen es nicht nur viel preiswerter, sondern auch besser.
Und für das viele Geld malochen wir auch noch zu wenig. Wir sind zu oft krank. Wir haben viel zu lange Urlaub. Unsere Wochenarbeitszeit ist auch viel zu kurz. Und dann gehen wir noch viel zu früh in Rente...
Und zu guter Letzt geben wir von dem viel zu vielen Geld, das wir verdienen, auch noch viel zu wenig aus...
Natürlich sind wir, »PISA« hat es an den Tag gebracht, auch noch zu dumm. Vielleicht verstehen wir deshalb nicht, dass viele deutsche Unternehmen trotzalledem Rekordgewinne verbuchen und dass wir -Êdie deutsche Industrie -Êsogar wieder Exportweltmeister geworden ist.
Nein, so dumm, wie der Ifo-Chef Hans-Werner Sinn und andere uns sehen, sind wir gar nicht. Wir wissen wohl, dass ein Teil unseres Wohlergehens und Wohlstandes nur geborgt ist. Dass die Welt sich verändert hat -Êund wir uns verändern müssen, um nicht zu weit zurückzufallen. Wir wissen es - wir, die Arbeitnehmer.
Deshalb sind die Löhne und Gehälter in den vergangenen Jahren weniger gestiegen als die Produktivität. Deshalb bewegt sich die Wochenarbeitszeit überall nach oben. Die tarifliche erreicht bereits wieder 38,4 Stunden, die tatsächliche nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sogar 42,4. Wir nehmen hin, dass mindestens jede dritte Überstunde nicht mehr bezahlt wird. Und irgendwie macht der enorme Druck uns sogar gesünder: Im vergangenen Jahr war der Krankenstand so niedrig wie niemals zuvor...
Wir, die Arbeitnehmer, sind zu Gunsten unserer Betriebe und damit unserer Arbeitsplätze zu Einschnitten bereit, wenn sie notwendig sind. Zugegeben, es gibt noch Ausnahmen. Leute, die lieber zu Hause bleiben oder schwarz arbeiten, als 100 Kilometer weiter den nächsten Job anzunehmen. Aber ihre Zahl wird immer kleiner. Im vergangenen Jahr sind zwar 8,2 Millionen neu arbeitslos geworden. Doch mehr als acht Millionen haben zugleich einen neuen Job gefunden - Êoft mit einem geringeren Verdienst als zuvor.
Deutschland bewegt sich. Vielleicht zu langsam. Vielleicht mit zu wenig Begeisterung.
Doch wie sollen auch Geschwindigkeit und Begeisterung entstehen, wenn Spitzenkonzerne wie die Deutsche Bank, E.ON und Siemens auf Spitzengewinne mit der Ankündigung reagieren, noch mehr Stellen abzubauen?
Josef Ackermann hat, in dem er offenbar kein anderes Ziel gelten lässt als die kurzfristige Rendite, allen einen Bärendienst erwiesen, die zu Reformen bereit sind. Denn jene, die Einschnitte verabreden oder gar Entlassungen verfügen müssen, weil der Betrieb sonst insgesamt gefährdet ist, werden ihm »dankbar« sein.

Artikel vom 10.02.2005