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Wer an Dresden vorbeikam, war noch lange nicht gerettet

Flucht vor anrollender Ostfront direkt in den Feuersturm der Alliierten

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Das Inferno von Dresden war mehr als der Brand einer mit Flüchtlingen überfüllten Stadt: Dresden vor 60 Jahren steht für eine riesige Region, in der hunderttausende Menschen auf der Flucht waren.
Siegfried Albersmeyer (74), aus Niederschlesien vertrieben. Foto: Wilfried Mattner

»Fast eine Million Menschen lebte in Breslau, als Konjews Panzer an der schlesischen Grenze erschienen«, schildert Jürgen Thorwald, der Chronist der »Großen Flucht«, das Vorrücken der Russen Mitte Januar 1945. Die einstige Einwohnerschaft Breslaus von 625 000 Menschen habe sich so gewaltig vergrößert, weil die schlesische Metropole bis Februar 1945 neben Dresden die einzige Großstadt Deutschlands gewesen sei, »die noch außerhalb des Bereichs der englischen und amerikanischen Bombergeschwader zu liegen schien.« Um den 20. Januar begann allein in Breslau der Auszug von geschätzt 700 000 Deutschen.
Ebenfalls am 20. Januar hieß es für Siegfried Albersmeyer, der das ostwestfälische Lübbecke 1947 erreichte, im niederschlesischen Quelldorf: »Räumen bis 20 Uhr!«. Die Oma, zwei Schwestern und der damals 15-Jährige machten sich auf den Weg, die Mutter blieb zunächst zurück. »Nur weil die schweren Belgier vor dem Wagen so stark waren, haben wir es zur Oder geschafft«, erinnert sich Albersmeyer. Ein Onkel, der es mit dem an sich konfiszierten Auto versuchte, wurde geschnappt.
Beim Start hörten sie den Geschützdonner von den heranrückenden Russen im Osten. Als der Treck Meißen erreichte, kam die Bedrohung schon aus der Gegenrichtung: Die Familie wurde Augen- und Ohrenzeuge der apokalyptischen Luftangriffe auf Dresden und des drei Tage währenden Feuersturms.
Schwester Elvira Leiser, die erst 1975 nach Bielefeld kam, kann den Brandgeruch des zerstörten Dresden bis heute nicht vergessen. In ihren Erinnerungen, die sie für den Deutschlandfunk und das WESTFALEN-BLATT niederschrieb, heißt es wörtlich: »Wenn heute die Leute im Sommer draußen grillen, halte ich mir die Nase zu, der Geruch verbrannten Fleisches erinnert mich an Dresden.«
Die Leisers waren am 18. Januar in Königshütte gestartet. Zunächst ging es noch mit dem Zug vom oberschlesischen Industriegebiet in sechstägiger Schleichfahrt nach Görlitz. Bei minus 20 Grad auf der Außenplattform eines Wagens entzündete Funkenflug die Strohtasche der damals 18-Jährigen. Sie wollte abspringen, die Mutter bewahrte sie vor einer Verzweifelungstat. Am 13. Februar, dem Tag der Angriffe auf Dresden rollte die Zug auf die Stadt zu. Er rettete sich in einem Bahntunnel - Schutz vor dem sonst sicheren Tod.
Beide hier erwähnten Fluchtgeschichten waren mit dem »Überleben von Dresden« noch lange nicht zu Ende. Die Albersmeyers zogen erst nach Brandenburg, wo sie im Großraum Berlin nichts als verbrannte Erde vorfanden. Die Liesers machten sich sogar auf den Rückweg nach Schlesien. Westlich der Oder gab es für sie nichts zu essen. Östlich davon übernahmen Russen und Polen die Herrschaft, brauchten aber Arbeitskräfte, und boten karge Versorgung.
»In Görlitz war eine schreckliche Zeit«, erinnert sich Elvira Leiser an den Frühsommer 1945, »die Leute sind wie die Fliegen gestorben in Hauseingängen und unter Treppen.« Tote wurden in Verdunkelungspapier eingewickelt, Särge gab es nicht.
Während die Flüchtlinge von den eigenen Landsleuten beargwöhnt wurden, begannen im neu entstehenden Polen »Umsiedlungsmaßnahmen«. Zu Elvira Leisers Erinnerungen gehört auch der (Ausweisungs-) »Sonderbefehl für die deutsche Bevölkerung von Bad Salzbrunn« vom 14. Juli 1945.
Friedrich Binschek (77), heute Gütersloh, wurde 1946 aus Braunsdorf im Sudentenland vertrieben. Damals habe man die zuerst Ausgewiesenen als gestrafte Gruppe angesehen, erinnert er sich. »Die Praxis hat aber gezeigt, dass diese Leute eher in der neuen Bleibe Fuß gefasst haben, während den später Ausgewiesenen das noch bevorstand.«
Nächster Teil: Dresdens Inferno

Artikel vom 09.02.2005