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Nur um der Kunst willen, versteht sich«, sagte sie. »Leider haben wir diese Zeitmaschine noch nicht erfunden.«
»Jedenfalls gibt es keinen anderen Bildhauer, dessen Figuren so oft geküsst worden sind. Es soll sogar mal einen deutschen Dichter gegeben haben, der eine von ihnen heiraten wollte.«
Livia lächelte ihn an. »Eine so umwerfende Wirkung muss eine Frau erst einmal haben.«
Duncan erwiderte nichts, sondern strich mit seiner Hand langsam die Körperlinien einer weiteren Venusskulptur entlang. Livia beobachtete, wie seine schlanken Finger zärtlich die kalten Hüften der Schönen entlangfuhren, sah, wie sie kleine Kreise zogen, als würde er sie sanft entkleiden. Ihr kribbelte der Bauch. Es war nicht Duncans Blick, nicht seine Gestalt, nicht sein sinnlicher Mund und nicht die Nacktheit der Skulptur. Es waren allein seine Hände. Nie hatte sie Ähnliches bei einem anderen Mann beobachtet: flüchtiges Berühren mit Empfindsamkeit und Sanftheit, was ihr tief unter die Haut ging.
Versonnen fuhr Duncan mit geschlossenen Augen mit seiner rechten Hand die Innenseiten der Schenkel entlang. Livia war, als wollte Duncan eine untrennbare Verbindung zwischen sich und der Skulptur herstellen. Finger der Liebe, schoss es ihr durch den Kopf. Greifen und Begreifen standen wohl in engster Beziehung, so wie Körper und Geist É
»Bewundernswert, dass Hände so harmonische Figuren erschaffen können«, meinte Duncan am Ende seiner Exkursion.
»Sie sind ja völlig weggetreten«, stellte Livia fest.
»Ach, ich denke im Moment nur darüber nach, woran Hände überall mit beteiligt sind.«
»Verraten Sie mir einige Ihrer Gedanken?«
»Dass Hände an den Handlungen beteiligt sind, mit denen Menschen das Äußerste vollbringen, im Guten wie im Bösen.«
»An welche Handlungen denken Sie?«
»Beim Lieben, Hassen, Foltern und Töten É«
»Oh! An diese Fähigkeiten der Hände möchte ich bitte nicht erinnert werden.«
»Sie wollten meine Gedanken lesen É«
Livia war einige Schritte vorausgegangen. Duncan folgte ihr nach. Sie deutete auf eine Figurengruppe. In Duncans Blickfeld geriet ein schneeweißes Ensemble von drei sich umschlingenden Damen.
Livia deutete mit einem spöttischen Lächeln in den Mundwinkeln auf die Oberfläche der Figuren, die mit schwarzen spitzen Stiften übersät waren. »Was die Hände beim Lieben sicherlich behindert hätte, wären diese Akupunkturstifte. Haben Sie eine Erklärung dafür? Warum sind diese wunderhübschen Damen rundum mit kleinen Nägelchen gespickt?«.
»Damit Canova seine Meisterwerke mehrfach ausführen konnte.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sehen Sie, der Bildhauer vermied das Risiko, auf eigene Kosten teure Marmorblöcke zu erwerben. Wenn er mühevoll Figuren aus dem Stein geschlagen hatte, waren diese oft nicht verkäuflich, weil die Abnehmer sie größer oder kleiner wollten. Deshalb fertigte er perfekte großformatige Ausmodellierungen im billigen Gips. An dem konnte er auch Korrekturen durchführen, die im einmal geschlagenen Marmor ausgeschlossen waren.«
»Warum aber so viele Stifte?«
»Es sind die Abmesspunkte, welche die räumliche Erscheinung markieren. Von diesen aus konnte Canova seine Modelle ausmessen und ihre Wiederholung in Marmor leicht in jeder gewünschten Größe veranlassen. Er brauchte dann nur noch die Feinarbeit zu machen. Außerdem konnte er Erfolgsstücke mehrfach fertigen.«
»Könnte man das auch nach dem lebenden Modell É?«, wollte Livia wissen.
»Oh! Ich gebe zu, ein prickelnder Gedanke. Doch im Ernst. Ich glaube, Canova hat die Messpunkte sehr wohl gelegentlich von seinen lebenden Modellen abgenommen. Der Gedanke liegt allzu nahe. Vorausgesetzt, die Mädchen haben stillgehalten.«
»Das muss ziemlich lange gedauert haben, bis er mit allen dreien hier fertig war.«
»Darüber haben sich schon einige Betrachter Gedanken gemacht. Aber die drei Grazien sind ganz offensichtlich eineiige Schwestern und deswegen wohl Canovas zarte Variationen nach einem einzigen Modell.«
»Er muss sich von diesem Teenager ungeheuer angezogen gefühlt haben.«
»Teenager?«, fragte er neugierig.
»Sehen Sie selbst. Stellen die Figuren reife Frauen dar?«
»Zugegeben, sie wirken äußerst jugendlich. Außerdem haben da bereits die Kritiker eingehakt É«
»Lassen Sie hören É« antwortete Livia herausfordernd.
»Ich habe gelesen, das Modell für die drei süßen Damen käme aus einem teuren Internat und Canova hätte es vom Schulhof entführt.«
»So was kann nur ein Mann vermuten. Nein, der Bildhauer drückt mit dieser Figurengruppe nur Zartgefühl und Anmut aus. Was ist aus dem Original der Skulptur geworden?«
»Die erste Fassung steht zweitausend Kilometer von hier in Leningrad. Wollen wir hinfahren? Hätten Sie Lust?«
»Brrrr, lieber nicht! In Russland haben es die drei nackten Kindfrauen ganz schön kalt um diese Jahreszeit.«
Livia war Duncan von Figur zu Figur gefolgt, an Grabmälern und Büsten vorbei, bis ihre Aufmerksamkeit von einer lebensgroßen liegenden Gestalt gefesselt wurde.
»Hier hat sich ja eine besonders reizvolle Dame hingestreckt«, sagte Livia bewundernd.
»Kommt sie Ihnen nicht bekannt vor?«
Livia schaute genauer hin. »Das gibt es doch gar nicht!«, rief sie aus.
»Doch! Das gibt es. Hier liegt unsere Venus!«
Livia ging in die Hocke. »Ist es wirklich dieselbe Haltung É?«
»Natürlich, genau die der ÝRokeby-VenusÜ«, bestätigte Duncan noch einmal.
»Sind Sie sich sicher?«
»Sehr. Wir haben großes Glück.« Duncan ging langsam um die Liegende herum. »Hmm É! Es gibt da einen kleinen Unterschied É«
»Was haben Sie entdeckt?«
»VelázquezÕ junge Dame hat eine rassige Taille, die in der Flachlage hier verschwunden ist.«
Livia spürte plötzlich, dass sie hier einer Sache auf der Spur waren, die etwas mit ihrem Bildproblem zu tun hatte und dass eine so nahe Verwandtschaft wahrscheinlich kein Zufall war.
»Woher hatte Canova seine Idee für die graziöse Haltung dieser jungen Frau?«
»Das ist eine der entscheidenden Fragen, deren Beantwortung uns weiterhelfen könnte, Signora.«
»Meinen Sie, er hat VelázquezÕ ÝRokeby-VenusÜ gesehen und zum Vorbild genommen?«
Duncan nickte zustimmend. »Es ist schon erstaunlich, dass sich so eine Folgerung aufdrängt.« Er blickte hinter sich und wies auf eine halb entblößte Figur, die etwas höher auf zwei Kissen aufgestützt war, deren Kopf allerdings abgeschlagen war. »Sehen Sie hier. Da liegt in ziemlich verwandter Haltung die Paoline Borghese, die ein paar Jahre vorher entstanden ist. Vielleicht war Velázquez dort schon der Ideengeber.«
»Was weiß man über dieses Werk?«
»Wenn ich mich recht erinnere, wollte Canovas Förderer, Baron Cawdor, ursprünglich eine siegreiche Venus ähnlich jener vielbewunderten Paoline und inspirierte Canova zu dieser Ausgestreckten hier. Mehr bekam er aber erst einmal nicht, denn sein Landesherr, der englische Prinzregent Georg IV., ein skandalumwitterter Lustmolch, begehrte genau diesen Typus und kaufte Canova seine brillante Ausführung in Marmor ab, die dann als Najade betitelt wurde.«
Livia schüttelte den Kopf. »Man könnte meinen, es gab für die Männer nichts Lebendiges auf dieser Welt, was diesen Idealen gleich gekommen wäre.«
»Für viele gab es das wirklich nicht, und die anderen setzten ihren Erinnerungen marmorne Denkmäler.«
»Ich fange an, diesen Mann zu durchschauen«, sagte Livia nach einer Weile verwunderter Betrachtung. »Canova holte sich eine mädchenhafte, langbeinige Schönheit, zeigte ihr das Gipsmodell der Paoline Borghese und versprach ihr unsterblichen Ruhm, wenn sie dieselbe Haltung einnimmt, nur eine Nuance lasziver, wenn möglich. Das alles für die Gelüste der puritanischen Engländer.«
»Jetzt sind Sie nah dran, denn die ersten Kommentare in Londons Journalen fielen genauso tadelnd aus. Aber finden Sie nicht auch, dass die jugendliche Najade eine überaus künstlerische Ausdrucksleistung vollbracht hat? Und dass der Bildhauer die Faszination seines Anblicks in seinem Werk vollendet festgehalten hat?«
»Ich muss Sie enttäuschen. Nein! Gegenfrage: Glauben Sie, Canova hätte diese sinnlichen Skulpturen erschaffen können, wenn er nur naiv abgekupfert hätte?«
»Mhm É«
»Ich glaube eher, er hat das Flittchen von Modell durchschaut, egal ob er es selbst geliebt, mit Geld oder großartigen Versprechungen gefügig gemacht hat. Jedenfalls hat er mit seinen künstlerischen Fantasien die Lüsternheit seiner Mäzene bedient. Die wollten nicht von einer frommen Betschwester träumen. Sie sind für mich die Scheinheiligen, die in ihren eigenen vier Wänden die Grenzen der Kunst heimlich zur Pornografie hin verschoben haben.«
Duncan traute seinen Ohren nicht. Die starken Worte Livias erstaunten ihn. Livia indes fuhr unbeirrt fort: »Man könnte eine völlig neue Theorie daraus entwickeln: Das Geheimnis des Magiers Canova liegt darin, dass er eine zweitausend Jahre alte Form als eine durchsichtige Verpackung für quicklebendige, hoch erotische Eindrücke verwendete.«
»Glauben Sie nicht, dass es eine reine Schönheit gibt, die manche Frauen einfach von Natur aus haben?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.02.2005