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Wahrscheinlich machen sie den Gips schon frostsicher!«, witzelte Duncan.
»Wehe, der Hausmeister hat um diese Jahreszeit schon alles dichtgemacht!«
»Ich bin mir sicher, wenn Sie klingeln, öffnet sich das Tor wie von selbst.«
Livia zog die Brauen hoch. »Sie wollen wohl, dass ich den Wächter bezirze, damit er Sie reinlässt?«
»Oh, Sie urteilen aber heute Morgen besonders scharf. Doch abgemacht: Wenn Sie Õs nicht schaffen, werde ich es versuchen.«
»Na, da hab ich ja noch mal yGlück gehabt. Vielen Dank É«
Kurz darauf standen sie vor einer Holztür, an der absolut kein Hinweis zu entdecken war, ob dies ein Eingang war und zu welchen Öffnungszeiten man hier hereinkam. Aber Livia drückte entschlossen den schmalen Türgriff und hatte, siehe da, tatsächlich den Weg ins Innere des Museums gefunden.
»Nun, was sagen Sie jetzt?«, triumphierte sie.
»Ich habe gerade erlebt, wie man durch eine einfache Idee ein ausgezeichnetes Ergebnis erzielt!«
Mit einem vergnügten Lachen betraten sie das Gebäude. Sie standen nun in einem niedrigen Durchgang und bemerkten seitlich das Schild »Cassa«. Wiederum drückte Livia die Klinke. Die Tür gab den Weg frei zu einem kleinen Vorraum, wo sie von einer älteren, strohblonden Frau empfangen wurden, die aussah wie eine nordische Walküre, die ihren Lebensabend in dieser Gegend verbrachte. Gerahmte Fotos an den Wänden und ein Postkartenständer signalisierten, dass dies der Museumseingang war.
»Was für ein putziges Ambiente!«, schwärmte Livia. Die Türen waren schmal und niedrig, und der Blick in ein enges anschließendes Zimmer ließ Livia daran zweifeln, hier mehr zu finden als einige verstaubte Büsten und blind gewordene Glasvitrinen.
Schade, sagte sie stumm zu sich. Erinnerungsstätten an die bescheidene Herkunft eines Genies sahen ja manchmal so aus. Doch ob sie gerade hier auf Puzzlestücke zur Entschlüsselung ihres Velázquez stoßen würde? Sie hielt das im gleichen Moment für äußerst fraglich. Ja, sie hätte ihrem Begleiter gern etwas Eindrucksvolleres gegönnt.
»Ein wenig eng und kühl ist es hier É«, sagte sie wie beiläufig und erkundigte sich bei der Walküre nach dem Museumsrundgang.
»Oh! Es ist alles ausgeschildert. Nur den Schildern nach! Folgen Sie den Schildern É!«, sang die Frau wie auf einer Bühne. »Aber lassen Sie sich Zeit É Viel Zeit É!«, rief sie hinterher.
»So ist es auf dem Dorf!«, flüsterte Livia, als sie sich entfernt hatten.
»Ein Dorf voll mit strahlenden Göttergestalten, die uns vielleicht helfen werden, ein süßes Geheimnis zu lüften!«, raunte Duncan dunkel.
Livia konnte sich keinen Reim darauf machen, woher er seinen Optimismus nahm. »Sie reden, als wären Sie schon hier gewesen É«
»In Gedanken war ich schon des Öfteren hier.«
Als sie den engen Durchgang hinter sich gelassen hatten, betraten sie einen kleinen Garten. Duncan blieb wie verzaubert stehen, während sich Livia an eine Säule lehnte, als würde sie klassischer Musik lauschen. Romantik schien sich hier für ewig eingenistet zu haben. Zwischen Magnolien, Zedern, Sequoias und Palmen wucherte wohl hier im Frühjahr ein Blumenmeer, das seit über hundert Jahren unverändert vor sich hin geblüht und gewelkt haben musste. Mit seinem dekadenten Charme strahlte der Ort nachgerade die Verehrung für den einstigen Bewohner aus.
»Ist das nicht paradiesisch hier?«, flüsterte Duncan.
»Die Dame vorhin hat sich geirrt. Man braucht keine Zeit - sie steht hier still.«
Die antiken Säulen- und Figurenfragmente, die in dem Gärtchen verstreut aufgestellt waren und schon teilweise von einem Buchslabyrinth überwuchert wurden, versetzten Duncan in eine ganz eigenartige Hochstimmung. Livia ließ sich davon anstecken und freute sich ebenso an allem, was er zwischen dem Grün entdeckte.
Es fiel ihnen schwer, sich von dem Anblick loszureißen. Gleichwohl trieb sie die Neugier. So steuerten sie auf die schmucklose Wand des rückwärtigen Gebäudes zu, das seitlich den Garten begrenzte. Duncan zog an der schweren Tür und hielt diese galant auf. Nach wenigen Schritten waren sie in eine andere Welt geraten.
»Wow!«, hörte Livia ihren Begleiter sagen. Spontan umfasste er Livias Schulter und drückte sie an sich. Die Berührung ließ sie erbeben. Es war lange her, dass sie ein Mann derart umfasst hatte. Als Duncan sie wieder freigab, schritten sie zusammen in die Halle. Überwältigt von dem unerwarteten Panorama blieben sie stehen und blickten staunend nach allen Richtungen.
Es umfing sie ein unwirklicher Elfenpalast, der nichts mit dem schlichten Dorf Possagno zu tun hatte und in den sie durch einen geheimen Zauber geraten sein mussten. Eine riesige weiße Halle mit einem hohen Tonnengewölbe hatte sich vor ihren Augen aufgetan. Niemand, der den schmalen Hauseingang passiert hatte, konnte mit einem solchen Monument rechnen. Auf wuchtigen Postamenten standen überlebensgroße weiße Steinfiguren vor den Wandnischen und den pilasterartigen seitlichen Mauervorsprüngen. Die Unwirklichkeit dieses Traumpalastes wurde noch gesteigert durch seine Menschenleere. Nur Ideengestalten aus Stein waren hier in eingefrorenen Bewegungen zu sehen. Sie selbst schienen die einzigen Besucher zu sein; nicht einmal ein Aufseher war zu erblicken. Duncan klatschte in die Hände, um das Echo zu testen, das schwach widerhallte.
»Sie haben mich in ein Märchenschloss entführt, wo die Feenkönigin regiert«, flüsterte Livia. »Ich hätte nie geahnt, dass es so etwas hier gibt.«
»Ja, es ist fantastisch!«, bestätigte Duncan. Schritt für Schritt, als könnte eine zu unbedachte Regung den Zauber der Situation zerstören, spähte er neugierig nach allen Seiten in den Saal hinein. Bewundernd blieb er vor einer lebensgroßen, hellen Frauenfigur stehen. Von höchster Anmut war diese halb entkleidete Schöne, die wie eine Tänzerin luftig voranzuschreiten schien, während der umhüllende, durchsichtige Chiffon aufreizend die Oberschenkel umspielte. In ihrer Linken hielt sie einen vergoldeten Pokal, während sie die zierliche Rechte triumphierend erhob, als wolle sie dem erstaunten Besucher zur Begrüßung einen Aperitif kredenzen.
»Hebe heißt sie. Ein Wunder an Natürlichkeit, finden Sie nicht auch?«, fragte Duncan.
»Ja, sie scheint Leben zu atmen. Ihr nackter Oberkörper wirkt nicht wie aus Gips, sondern wie aus Fleisch É«
»Wie eine antike Figur, die Wirklichkeit geworden ist.«
Duncan betrachtete angeregt die jugendlichen Brüste, die den Nachklang eines hellenistischen Körperideals verrieten, und den fülligen Oberschenkel des Spielbeins, der unter der Faltenflut des Chiffons ins Auge sprang.
Livia, die bemerkte, dass ihr Begleiter der wohlproportionierten Frauenfigur ein wenig mehr Aufmerksamkeit schenkte, als nötig gewesen wäre, versuchte ihn aus der Reserve zu locken. »Ich gäbe viel dafür, die wahren Gedanken eines Mannes beim Anblick dieser Dame lesen zu können.«
»Ganz schön neugierig, Signora!«
»Sie weichen mir aus!«
»Nein, nein. Ich will mich nicht zieren. Ich finde, Canova hat mit den dünngratigen Tuchfalten, die den Schritt der Dame betonen, die Rundungen ihres Körpers einerseits deutlich modelliert und andererseits raffiniert überspielt. Er wusste wohl genau, wie dieser Blickfang die Männer hin und her reißt. Ein Meisterstück von Erotik!«
»Mhm! Das kann sogar ich als Frau nachempfinden.«
»Aber sind Frauen nicht doch ein wenig eifersüchtig, wenn Männer ihre Aufmerksamkeit so deutlich Ihren schönen Gipsverwandten hier zuwenden?«
»Sie sprechen von ÝMännernÜ. Wie weit geht Ihre Aufmerksamkeit?«
»Also, ich versuche Canova gründlich zu erfassen, mich in die Augen des Bildhauers zu versetzen É«
Livia hielt die Hand vor den Mund und fing an zu glucksen. »So, so. In die Augen des Künstlers versetzen É Dünngratige Modellierung und dergleichen É«
»Sie nehmen mich doch hoffentlich nicht auf den Arm, Signora É«, spielte Duncan den ernsthaften Kunstexperten. Livia sah ihn verschmitzt an und nahm dieselbe Pose ein, wie die Statue neben ihr sie zeigte. Ihr rotes, weitgeschnittenes luftiges Seidenkleid umfloss ihre Beine genauso wie der Chiffon der Hebe. Plötzlich beugte sie sich vor, um das Kleid enger um ihre Figur zu raffen. Als Livia sich vorbeugte, entblößte sie ihren atemberaubenden Busenansatz. Die Andeutung dieser lebendigen Nacktheit ließ Duncans Atem stocken.
»Im Namen der Göttin«, rief Livia: »Seht das Modell aus Fleisch und Blut - Ihr braucht es nicht mehr vor Eurem inneren Auge zu beleben.«
Duncan führte seine Hand zum Herzen und verbeugte sich mit Grandezza. »Aphrodite der Gärten: Welch ein Geschenk! Nie mehr wieder werde ich den nackten, kalten Marmor verehren.«
Beide zugleich brachen sie in Gelächter aus.
»Sie haben sich den richtigen Beruf für Ihre männlichen Interessen ausgesucht«, sagte Livia, immer noch lachend. »Sehe ich das richtig?«
»Ja, das gebe ich gern zu. Mein Männerauge lässt sich öfters inspirieren, wenn es um die Kunst geht. Und Canova setzt durchaus die männliche Fantasie in Gang, wenn er so eine griechische Halbgöttin vorführt, aber an den Details ihres Körpers erkennen lässt, dass er ein verflixt schönes Modell vor sich gehabt haben muss.«
»Ich ahne, wie gern Sie jetzt die Zeitmaschine bedienen würden, um mit Canovas Augen und Händen die Wahrheit zu erfahren É«
»É und Sie würden gern Mäuschen spielen und sehen, wie Mister Munro artig bei seinen Modellen Maß nimmt«, vollendete er.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.02.2005