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Das haben die Trachten bei Ihnen in Italien mit unseren gemeinsam.«
»Und was trägt der Schotte darunter?«, fragte Livia schelmisch. »Aber ehrlich!«
»Ja, ja! Die Frage aller Fragen. Liebe Signora Vasari: Das ist und bleibt ein Geheimnis.«
»Ach, ist das unerotisch!«
»Keineswegs! Erotik, das gilt auch beim Kilt, ist das Reich der Annäherung. Ein bisschen Spielraum für die Fantasie muss doch bleiben. Nicht wahr?«
»Na! Dann achten wir für heute lieber darauf, dass der Spielraum gewahrt bleibt«, meinte sie spitzbübisch.
Sie gingen wieder einige Stufen und Windungen höher. Ein leichter Wind erfrischte sie.
»Machen wir eine Pause«, sagte sie, atmete tief durch und sah sich um.
»Gleich sind wir oben«, meinte Duncan.
»Ja, da vorn. Noch eine Biegung«, bestätigte Livia. »Mister Munro. Ich habe gar nicht gewusst, dass die Schotten so traditionsbewusst sind?«
»Oh, der Clan der Munros existiert und gedeiht wie nie zuvor.«
»Clan? Das stelle ich mir immer ein wenig wie Sizilien vor - «
»Ha, ha! Sie denken wohl an die Mafia?«, belustigte sich Duncan. Er baute sich absichtlich stolz vor ihr auf und tönte: »Die Wurzeln der Munros reichen weiter in die Geschichte zurück als die der Medici.«
»Das ist ja beeindruckend. Doch im Ernst. Wie weit reicht Ihr Stammbaum wirklich zurück?«
»Der Erste unseres Stammes war Hugh Munro of Foulis und starb 1126. Wir wurzeln seitdem im Nordosten der Highlands, und unser gälischer Name lautet Mac an Rothaich.«
»É mit Burg und so É?«
»Mit Burg und Graben, Ländereien drumherum und dazu viele, viele Schafe.«
»Und wie kamen Sie zur Kunst und Malerei?«
»Das verdanke ich meinem Vater und meiner Zeit als Student in Glasgow. Damals habe ich ernsthaft angefangen zu malen.«
»Oh! Dann haben Sie da schon ein Atelier besessen?«
»Ein kleines. Aber ich hatte in Glasgow alles, was sich ein junger Maler zwischen Soul, Rock und hübschen Modellen wünschen konnte.« Er grinste.
»Das hört sich ja nach einer wilden Studentenzeit an.«
»Ein bisschen wild war es wohl. Doch jetzt reden wir schon viel zu viel von mir. Sind Sie hier geboren?«
»Nein, viel weiter südlich, in Salerno bei Neapel.«
»Wenn ich Neapel höre, denke ich als Maler an Neapelgelb und Terra di Pozzuoli. Es kommt vom Golf von Pozzuoli. Er muss ebenfalls ganz nahe bei Neapel liegen.«
»Das stimmt«, sagte Livia erfreut. »Wir haben Verwandtschaft dort. Man kann mit der Trambahn direkt nach Neapel fahren. Waren Sie schon einmal dort?«
»Nein, leider noch nicht. Aber als Maler könnte ich nicht arbeiten ohne Pozzuoli.«
»Sie denken an die Farbe?«
»Ja. Es ist der milde Rot-Ton, den seit Jahrhunderten alle Maler für die Hautfarbe brauchen.«
»Unverzichtbar? Auch heute noch?«
»Auch heute noch. Alle anderen Rottöne empfinde ich als penetrant und unnatürlich. Manche haben gar noch einen violetten Schimmer wie das Englischrot. Nein, Terra di Pozzuoli ist unerreicht und auch mit moderner Chemie nicht hinzukriegen.«
In diesem Augenblick hatten sie das Burgplateau erreicht. Unmittelbar, wie ein mächtiger kahler Stamm, schien die Burg aus der Erde zu wachsen. Ein schmiedeeisernes Tor versperrte den Weg in das Innere der Burgruine. Nur ein schmaler Saumpfad führte entlang der mächtigen Burgmauer, der zum Abgrund hin durch eine weitere mächtige Stützmauer begrenzt wurde. Eine grandiose Kulisse tat sich nach Süden hin auf. Ein üppiges Netz von Zypressen, Olivenbäumen und Weinbergen lag ausgebreitet vor ihnen. Die hellen Ziegeldächer Asolos wirkten wie Spielzeugklötzchen, die von einem Riesen ausgestreut wurden, und die Hügellandschaft, die sich dahinter wie eine pathetische Theaterkulisse auftat, löste sich fern davon im pastellfarbenen Dunst auf.
»Ein glücklicher Ort!«, schwärmte Duncan.
Livia atmete tief durch und sah hinauf zur hohen Burgmauer, die hinter ihnen aufragte wie eine unbezwingbare Wand. »Ja, ich fühle mich wie geblendet. An diesen Orten meine ich immer ein anderer Mensch zu werden.«
»Die Herrscher von früher wussten offenbar sehr genau, auf welche Berge sie ihre Burgen stellen sollten. Nicht nur, um vor Angreifern geschützt zu sein«, erwiderte Duncan.
»Vielleicht ist es das Streben nach dem Absoluten. Ich denke, hier lässt es sich ein wenig nachvollziehen.«
»Mhm! Ein Landstrich voller Überfluss. Hier glaubt man heute noch, dem Herzen der Schöpfung nahe zu sein É«, sinnierte Duncan. Am liebsten hätte er Livia in die Arme geschlossen, was für ihn an diesem Ort die vollkommene Harmonie ergeben hätte.
»Meinen Sie nicht auch, Mister Duncan, dass dies, was wir gerade empfinden, die Wärme, das besonders harmonische Landschaftsbild und die weiten Ausblicke, eine Inspiration für alle Maler war?«
»Das muss so gewesen sein. Tizian hat ja die Ausläufer der Alpen des Cadore in seinen Werken verherrlicht, Mantegna hat die euganeischen Berge gepriesen, Piero della Francesca und Benozzo Gozzoli verewigten die mit Weinreben getüpfelten Hügel der Toskana, und Dürer hat die Brentaberge aquarelliert. Die Maler haben diese Landschaft gepriesen, bevor die Menschen der modernen Zivilisation die Natur als Wanderziel entdeckten.«
»Sie überraschen mich immer wieder, Mister Duncan. Die italienische Kunst scheint Ihnen ja ans Herz gewachsen zu sein.«
»Das geht vielen Nordeuropäern so. Und die Engländer und die Schotten waren die ersten Kulturreisenden hierzulande. Würden sie mich zu einem Besuch des Geburtshauses des größten Sohnes dieser Region begleiten?«
»Wen meinen Sie É vielleicht Giorgione?«
»Nein, Canova, den meine Landsleute besonders geliebt haben.«
»Oh! Von Casanova habe ich gehört«, lächelte sie ihn an, »doch Canova?«
»Mein Mentor, Mr. Ruhemann, der Meisterrestaurator der National Gallery, hat ihn mir ans Herz gelegt. Für ihn ist Canova der größte Bildhauer nach Michelangelo und Bernini. Das Geburtshaus des Künstlers liegt nicht weit von Asolo. In ihm befindet sich ein außergewöhnliches Museum großer und kleiner Gipsfiguren.«
»Gipsfiguren?« Livia runzelte die Stirn. »Was ist denn daran so interessant?«
Duncan stützte seinen Fuß auf der Mauer ab und sah Livia an, als wäre ihm plötzlich eine Erleuchtung gekommen. »Vielleicht ist das für uns sogar sehr interessant.«
»Wieso?«
»Nun, vor meinem inneren Auge sah ich gerade Canovas berühmte Figur der Paoline Borghese, der Schwester Napoleons.«
»Ja und?«, drängte Livia. »Was ist damit?«
»Sie liegt ganz ähnlich da wie Ihre Velázquez-Venus. Die große Marmorfigur ist allerdings in Rom. Aber wir sollten sehen, ob in dem Canova-Museum das Modell dazu ausgestellt ist. In jedem Fall können wir dort Bücher mit Reproduktionen finden.« Duncan kniff die Augen zusammen und überlegte angestrengt. »Auf diese Weise hätten wir die Möglichkeit, zu der Rückenansicht, wie sie die Londoner ÝRokeby-VenusÜ zeigt, eine entsprechende Vorderansicht zu finden und sie mit Ihrer Venus zu vergleichen.«
Livia sah auf die Uhr. Es war kurz vor elf. »Es ist noch Zeit, Mister Duncan É Wollen wir uns gleich auf den Weg machen?«
Duncan überlegte. »Sie vergessen, dass heute Montag ist. Da sind alle Museen geschlossen. Wir müssen uns noch einen Tag gedulden.«
»Dann morgen?
»Morgen ist gut. Und ich kann mich im Hotel ein wenig einrichten.«
»Sehr gut. Ich werde Sie abholen.«
»Ist neun Uhr zu früh für Sie?«
»Keineswegs. Für mein Bild stehe ich auch mitten in der Nacht auf É«, erwiderte Livia kokett.
Duncan hob den Zeigefinger: »Ich werde es mir merken!«

Possagno, September 1964
Mit Schwung war es Livia gelungen, das Türschloss ihres kleinen roten Fiat zum Einrasten zu bringen. Ihr unterhaltsamer Mitfahrer war gerade auf der anderen Seite des Autos herausgesprungen und streckte sich, als müsste er seine langen Glieder wie ein Taschenmesser aufklappen. Er genoss wohl jeden Schritt auf dem Boden Italiens und blickte in den blauen Himmel, als beobachtete er die Schönheiten in den oberen Opernlogen. Leicht wie eine knackige Cocktailkirsche wippte Livia neben Duncan über die Fläche des noch leeren Parkplatzes. Ihr rotes, elegant geschnittenes Seidenkleid umspielte aufreizend ihre schwarzbestrumpften Beine. Sie war selbst noch nie an diesem Ort gewesen, der abseits von den großen Routen lag, auf denen sich die Touristen drängten. Doch zweifellos waren sie am richtigen Ort. Wenige Schritte unterhalb des Platzes lag ein lang gestrecktes zweistöckiges Gebäude.
Livia blieb für einen Moment stehen. Nicht die Mauern überraschten sie; diese glichen den anderen, die man allerorten in Norditalien zu Gesicht bekam. Nein, es war eine Aufschrift, die ihre Aufmerksamkeit fesselte. Auf der schlichten Hausfassade stand in Großbuchstaben zwischen zwei geschlossenen Fensterläden Gypsotheca.
»Ein eigenartiger Name für ein Museum, finden Sie nicht auch?«
»Ich gebe zu, eine Weintheke würde mir weniger Rätsel aufgeben«, erwiderte Duncan.
»Wir sind richtig! Sehen Sie É«, rief Livia und zeigte auf die verblasste Tünche. Gerade noch war der Schriftzug Museo Canoviano auszumachen.
»Es sieht geschlossen aus. Unten sind alle Fensterläden zu«, bemerkte sie.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.02.2005