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Reine Schönheit - was heißt das? Meinen Sie das, was als unschuldig und jungfräulich gepriesen wird?«
»So ungefähr.«
»Natürlich gibt es das. Aber mit der erotischen Ausstrahlung einer Skulptur oder eines Gemäldes hat das nichts zu tun. Ich denke, wenn Männer den Eros einer Frau festhalten, dann haben sie sie schon zum Objekt ihrer Begierde gemacht.« Ein entwaffnendes Lächeln blitzte zu Duncan hinüber. »Verzeihen Sie, wenn ich das so direkt sage.«
»Nur zu. Es ist wunderbar, mit Ihnen zu diskutieren.«
»Das geht mir ebenso.« Livia deutete auf die Lippen der Skulptur. »Was meinen Sie, hat die Najade nun so amüsiert gelächelt, als sie Modell saß, oder hat Canova da getrickstÉ?«
»Sie können sich das Passende raussuchen.«
Livia war an die Skulptur herangetreten und strich ihr zärtlich über die Wangen. Mit leiser Stimme sagte sie: »Das lächelnde Gesicht tut so, als ob es sphärische Klänge vernimmt, vielleicht Musik von Mozart. Und unter dieser edlen Überschrift dürfen die Betrachter den genauso anmutig bewegten Körper studieren: zur höheren Ehre der KunstÉ«
Livia strich ihr von neuem zärtlich über die Wange. Dann hielt sie das Kinn, als wollte sie den Kopf in ihre Richtung drehen. Nach einer Weile stellte sie trocken fest: »Die Kleine weiß doch, dass sie nackt ist. Fragen wir doch lieber: Was für ein Ziel verfolgte das sich verführerisch räkelnde Mädchen, dessen süße, träumerische Melancholie uns in ihren Bann schlägt?«
»Na ja, vielleicht das Ziel der eitlen Selbstdarstellung? Bewunderung? Vielleicht das Ziel, ihr nacktes Fleisch unsterblich im reinen, hellen Marmor verewigt zu sehen?«
»Oh! Das ist reine Männerfantasie. Nein, nein, Mister Duncan. Durch die Jahrhunderte hindurch verfolgte eine Frau - nicht anders als der Mann - vor allem ihre eigenen Ziele. Ich will es deutlicher sagen: Fräulein Najade suchte eher einen Ziehvater für den Schreihals ihrer kleinen Najadine als nach Unsterblichkeit in kaltem Marmor. Sie suchte damals auch sicher nach einem Ehemann oder Geldgeber, der es ihr möglich machte, sich noch öfter so unbesorgt auf die Couch zu legen, am liebsten sogar in einem flauschigen Morgenmantel. Zugleich suchte sie vielleicht auch nach der großen Liebe. Das Ganze in lichtvoller Wärme. Das ist oft noch gemütlicher als ohne É«
Während sie sprach, hatte sich Livia verbotenerweise auf das Podest der Skulptur gesetzt und fuhr mit ihrem Zeigefinger die Linie der linken Schulter ab. Duncan hatte sich von der Rückseite der Skulptur genähert und tastete seinerseits mit der Hand die Linie des Unterarms der Najade entlang, die ihn zum Oberarm hinauf führte.
Ihre Augen begegneten sich. Duncan flüsterte über die Skulptur hinweg: »Vielleicht träumte sie nur den Traum der Träume, den wir alle haben. Die Träume, in denen das Wesen der Liebe, der Zärtlichkeit, in einem Kuss oder einer Liebkosung konzentriert ist.«
»Vielleicht É«, flüsterte Livia zurück.
Ihre dunkle Stimme rührte etwas tief in ihm an. Eine eigentümliche Spannung ergriff ihn. Was denkt sie wirklich, fragte er sich im Stillen. Und: Glaube ich selbst an das Gerede von der Einheit des Körperlichen und des Seelischen? Oder ist es nicht so, dass die Herrschaft der Gedanken über die Gefühle, des Kopfes über den Bauch, sowieso nie gelingen wird? Er spürte die geradezu magnetische Anziehungskraft, welche die junge Frau auf ihn ausübte. Seine Hand war nur noch durch die Distanz des halben Oberarmes von dem Zeigefinger Livias entfernt.
Livia rettete ihn, indem sie ihn im gleichen Moment fragte: »Können Sie Schönheit definieren?«
Ernüchtert hätte er fast seine Hand vom Arm der Skulptur genommen. Doch Livias Zeigefinger tippte ein unhörbares Stakkato unweit seiner Fingerspitzen.
»Genauso gut könnte man eine Seifenblase sezieren.«
»Ach, es gibt doch schönere Antworten darauf É«, sagte sie ein wenig enttäuscht.
Duncan machte seinen Fehler gut. Mit den Augen versuchte er, die Distanz zu Livia zu überwinden. Livia hielt seinem Blick stand. »Platon meinte«, sagte er langsam, »was schön sei, sei gut.«
»WeiterÉ«, sagte Livia lächelnd.
Duncan blickte in Livias große schwarze Pupillen. Nur noch zwei Zentimeter trennten ihre Finger. »Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit ist Schönheit É« Er fasste Livias Hand mit seiner Rechten und zog ihren Kopf sanft heran.
Livia gab nach. Auf kürzeste Distanz sahen sie sich in die Augen. »Die Schönheit eines Mannes ist sein Verstand É«
»É und die Klugheit einer Frau ist ihre Schönheit«, vollendete Duncan.
Livias Blick senkte sich. Sanft tasteten ihre Lippen die seinen. Ihr Atem ging schnell. Ihre flinke Zunge schoss hier und dorthin und entfachte in Duncan das heiße Feuer seiner Leidenschaft. Ihm war, als würden in seinem Kopf Funken sprühen. Er begann ihr Gesicht zu liebkosen, küsste ihre Wangen, Ohren, den Hals. Seine Hände wühlten im Haar, während sie ihren Kopf zurücklegte. Er beugte sich herunter, und mit den Lippen liebkoste er ihre nackten Schultern. Er sog den Duft ihres Parfüms ein. Als er unter ihre Achsel greifen wollte, um sie etwas näher zu sich heran über die Gipsfigur zu ziehen, nahm sie seine Hand und drückte sie gegen die Brust der Najade. »Spürst du ihre vollendeten Rundungen?«, flüsterte sie heiser.
»Sie sind tot. Es pulst kein Herz darunter É«
Langsam nahm Livia Duncans Hand vom Gips und führte sie an ihre linke Brust. Schnell drehte sie sich, so dass er sie von hinten umfassen konnte. Sein Atem ging schneller. Sie streckte ihre Arme und umfasste seinen Kopf. Livia legte erneut ihren Kopf zurück, und er umfasste sie wie Amor seine Psyche. Duncan hielt es nicht mehr auf seiner Seite. Er wollte über die liegende Najade steigen, doch Livia hielt ihn sanft fest. Ihre Lippen suchten die seinen. »Bleib so, umfange mich. Du bist mein Amor É«
»É und du meine Psyche.«
»Madonnna mia!«, hörte Duncan wie von fern das Kreischen einer hellen Frauenstimme. Livia zuckte zusammen. Er ließ von ihr ab und fuhr hoch. Die Walküre stand mit empörter Miene unweit des Herkules.
»Was erlauben Sie sich!« Mit schnellen Schritten walzte sie heran. Die Empörung sprang aus ihren Kulleraugen, die sich vor Unglauben geweitet hatten. »Was machen Sie da mit der Najade?«
»Verzeihung, Signora!«
»Da gibt es nichts zu verzeihen! Sie sollten sich schämen!«
»Sehen Sie É Canova É hat uns É ja, wie soll É ich sagen É Er hat uns einfach inspiriert!«, sagte Duncan, während Livia souverän ihr Seidenkleid zurechtzupfte.


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.02.2005