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»Ich kann nicht schweigen« -
Bild-Appell und Denkanstöße

Tisa von der Schulenburg zeichnet Hunger, Not und Kriegselend

Von Manfred Stienecke
Büren (WB). Hungernde Kinder, ausgemergelte KZ-Insassen, verzweifelte Arbeitslose - die Bilder der Künstlerin Tisa von der Schulenburg sind Klage und zugleich Aufforderung zur Änderung von Not und Missständen.

1903 als Tochter eines preußischen Generals im adlig-konservativen Milieu des deutschen Kaiserreichs geboren und 2001 hoch betagt im Dorstener Ursulinenkloster gestorben, hat Tisa von der Schulenburg nicht nur mit ihren Lebensdaten das unruhige und vielschichtige 20. Jahrhundert bewusst durchschritten. Auch in ihrer Kunst spiegelt sich das Bemühen um eine Verarbeitung der sozialen, gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen rund wider. Die gestaltende und zeichnende Ordensfrau wird zum mahnenden Seismografen von Hunger, Elend, Not und Krieg.
Aus einem Konvolut von etwa 5000 hinterlassenen Blättern hat Ausstellungskurator Dr. Klaus Kösters vom Westfälischen Museumsamt 200 Arbeiten für die Werkschau der Künstlerin ausgewählt, die seit 2004 durch verschiedene westfälische Städte »wandert«. Dabei bemüht sich das Museumsamt darum, an jedem Standort einen anderen Schwerpunkt zu setzen - in der Wewelsburg bei Büren rücken die Arbeiten zum Holocaust in den Mittelpunkt, ohne dass die anderen Werkgruppen zu kurz kämen.
Knapp 100 Blätter lassen Tisa von der Schulenburgs künstlerischen Aufschrei zu den Verbrechen des Nationalsozialismus ebenso nachhallen wie ihre Klage über die Not in der Dritten Welt und über Misshandlungen und Kriegshandlungen etwa in Südafrika, in Vietnam und im Kosovo.
»Tisas Kunst stellt sich ganz in den Dienst politischer, gesellschaftlicher und humanitärer Aufgaben«, verortet Kösters ihren ästhetischen Ansatz in der emotionalen Aufrüttelung des Betrachters. »Ihre Arbeiten ergreifen, provozieren, verstören und schmerzen und sind doch gleichzeitig voller Barmherzigkeit und Menschlichkeit.« Bilder als Denkanstöße, deren Aufforderung zur Stellungnahme, zum persönlichen Engagement auch im Kleinen man sich kaum entziehen kann.
»Ich kann nicht schweigen« lautet der Leitsatz der Künstlerin, deren bewegtes Leben Vieles aussagt über die konsequente Suche nach Orientierung in einer aus den Fugen geratenen Welt. Tisa von der Schulenburg gibt ein besonders prägnantes Beispiel für die innere Zerrissenheit zwischen persönlicher Anteilnahme und Hilflosigkeit, zwischen Macht und Moral. Sie löst sich aus der großbürgerlichen Behaglichkeit ihres konservativ-adligen Elternhauses und studiert Kunst in Berlin, wo sie aus nächster Nähe das soziale Elend der Wirtschaftskrise miterlebt.
Die Heirat mit dem jüdischen Unternehmer Fritz Hess zwingt sie nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zur Flucht nach England, doch auch nach der Scheidung 1938 wird sie Opfer der Kriegspolitik - sie darf nicht mehr nach England zurück und lebt auf dem mecklenburgischen Gut ihres zweiten Mannes C.U. von Barner, den sie während des Krieges heiratet. Auch die zweite Ehe scheitert, Tisa tritt 1950 in den Ursulinenorden ein, dem sie bis zu ihrem Tod treu bleibt - hier findet die ehemals überzeugte Sozialistin in der christlichen Hingabe ihre Erfüllung.
Die Sonderausstellung unter dem Titel »Tisa von der Schulenburg - Kunst im Brennpunkt des 20. Jahrhunderts« ist noch bis zum 27. Februar in der Wewelsburg zu sehen. Mitte Juni kommt sie noch einmal nach Ostwestfalen in das Paderborner Diözesanmuseum. Dann soll der Schwerpunkt auf der christlichen Kunst liegen. Ein ausführlicher Werkkatalog (260 Seiten) ist im Verlag Aschendorff in Münster erschienen.

Artikel vom 02.02.2005