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Verfolgt, verloren, verhungert - und von der Front überrollt

Die Flucht aus dem Osten vor 60 Jahren war oft eine schlimme Odyssee

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Die große Flucht der Deutschen vor 60 Jahren war selten eine Einbahnstraße von Ost nach West. Millionen erlebten eine schlimme Odyssee: Von der Front überrollt, die Kinder verloren, die Menschen verirrt, verunglückt, verhungert. Wie nah Glück und Unglück beieinander lagen, zeigen die Wege von Ursula Fisahn (heute Bielefeld-Heepen) und Manfred Pultermann (Enger). Beide starteten am 21. Januar 1945 in Königsberg und nahmen grundverschiedene Wege.
WESTFALEN-BLATT-SerieFolge 5Siegfried Raffalski, damals Flüchtling, heute Helfer.

Die 20-Jährige aus dem Memelland erreichte nach zehn Tagen Augsburg mit einem Militärzug, der wertvolles Gerät vor den Russen in Sicherheit bringen sollte. Die Reise kostete Nerven, weil der Bummelzug stets von den Russen eingeholt zu werden drohte.
In ihrem Erinnerungsbericht schreibt Ursula Fisahn: »Wir dürfen nicht jammern... Wir sitzen im Zug und müssen nicht zu Fuß durch den tiefen Schnee marschieren wie zig Tausende von Flüchtlingen, und zu essen haben wir auch.« Beim Zwischenstopp nach sieben Tagen (!) im pommerschen Pyritz notiert sie: »Ich begreife nicht die Sorglosigkeit in der Stadt gegenüber der nahenden Front - wie in Königsberg.«
Der damals achtjährige Manfred Pultermann erinnert sich, »Ende Januar rückten die russischen Truppen immer näher an das Stadtgebiet von Königsberg heran. Das endlose Donnern der Artillerie und ihre Einschläge waren sehr beängstigend.« Ohne Vater, der 1941 gefallen war, machte sich die Familie auf den Weg. Mit dem letzten Zug verließen sie Königsberg genau wie Ursula Fisahn am 21. Januar 1945 - aber in Richtung Ostseehafen Pillau.
Der Zug kam nur wenige Kilometer voran, musste sogar wieder ein Stück zurück. In Metgethen, noch in Sichtweite von Königsberg, war die Reise schon zu Ende.
Von russischen Soldaten wurden die Flüchtlinge gefilzt, aller Wertgegenstände beraubt und in Gruppen aufgeteilt. Dabei fielen Schüsse, der achtjährige Manfred sah, wie ein Deutscher von russischen Kugeln durchsiebt wurde. Vor allem die Frauen waren der Soldateska ausgeliefert. »Meine Mutter ist meistens verschont geblieben,« sagt Pultermann, »weil sie sich auf dem Fußboden mit einer Decke bedeckt hatte und meine Schwester und ich uns über sie legten«.
Es folgten »fünf grausame Jahre«, in denen die Oma, der Opa und ein Onkel ums Leben kamen und zwei Tanten zur Zwangsarbeit in den Ural verschleppt wurden. In Königsberg drohte der Hungertod, von 1947 bis 1949 schlugen sich Mutter und Sohn in Litauen durch. Pultermann: »Dem Mitgefühl dieser Menschen verdanken wir unser Leben«.
Das Schicksal der von Polen und Russen »verteilten«, sprich: für die Eltern verlorenen, Kinder ist Siegfried Raffalski aus Espelkamp besonders wichtig.
Seine Flucht hatte schon im Herbst 1944 in Insterburg begonnen. Die Mutter wurde Anfang März bei Kolberg mit dem damals Neunjährigen und drei jüngeren Geschwistern von der russischen Front eingeholt. »Von einem offenen Güterzug holte die polnische Polizei alle Deutschen herunter und steckte sie für einige Tage in ein Sammellager.«
Im nächsten Lager, Potulice, wurden am 27. April 1945, Siegfrieds zehntem Geburtstag, allen Müttern die Kinder abgenommen. Raffalski: »Kinder unter zehn Jahren, zu denen meine drei Geschwister gehörten, mit einem Pferdefuhrwerk, die größeren, zu denen ich seit diesem Tage auch gehörte, mussten laufen.«
Die Familien verloren sich. Kinder kamen erst in Heime, dann »wurden sie von Polen zu sehr unterschiedlichen Zwecken in Familien geholt«. Raffalski ist sicher, dass manche Kinder »in den polnischen Familien blieben und heute Polen sind, vor allem wenn es keine Eltern mehr gab«. Die Raffalskis hatten Glück. 1949 fanden die Mutter, die vier Kinder und auch der Vater im Westen wieder zusammen.
»Die Bilder, wie ständig alte Menschen und Kinder zwecks Bestattung in Massengräbern aus dem Lager herausgefahren wurden, werde ich wohl nie vergessen.« Der heute 70-jährige Espelkamper hat inzwischen seinen 34. privaten Hilfstransport ins ehemalige Ostpreußen absolviert.
Beim Blick zurück sagt er: »Am Ende waren es die vielen Gebete und das feste Vertrauen auf Gottes Hilfe, die unsere Familie diese schlimme Zeit hat überstehen lassen.«

Artikel vom 01.02.2005