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Von der Lust, die schlimme Leiden schafft

Oper »Alcina« am Theater Bielefeld

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Es geht um Liebe, um maßlose Leidenschaft, um tierische Lust auf der einen, und um Pflicht und Vernunft auf der anderen Seite. In Georg Friedrich Händels Oper »Alcina« prallen zwei Welten aufeinander. Reichlich Sprengstoff also für eine Tragödie, die am Theater Bielefeld mit knisternder Erotik wie auch schonungsloser Brutalität auf die Oetkerhallen-Bühne gebracht wird.

Betrachtet man Hauptfigur Alcina als Allegorie der Lust und Leidenschaft, dann liegt eine Ansiedlung im Rotlichtmilieu schon nahe. Ins Heute übersetzt, wird aus Händels Zauberinsel Gregor Horres' Lasterhöhle, die Kirsten Dephoff (Bühne und Kostüme) mit kühler Eleganz ausgestattet hat.
Im frivolen Etablissement für Bessergestellte empfängt die »Chefin« - bei der Übersetzung des Librettos ließ das Inszenierungsteam größtmögliche künstlerische Freiheit walten - ihre Kunden. Callgirl Morgana (Cornelie Isenbürger) bezirzt mit appetitanregender Striptease-Nummer, Barkeeper Oronte (Simeon Esper) mixt berauschende Cocktails. Kunde Ruggiero (Victoria Granlund) ist eine heiße Liebesaffäre mit der Chefin (Melanie Kreuter) eingegangen und hat sich im »Zentrum der Lust« häuslich eingerichtet. Alles läuft nach den Regeln der Liebeskunst, bis zwei Gäste auftauchen, die das harmonische Gleichgewicht stören bis die Gefühle Achterbahn fahren.
Bradamante (Kaja Plessing) und Melisso (Michael Bachtadze) sind gekommen, um Ruggiero an seine bürgerlichen Pflichten zu erinnern und auf den rechten Weg zurückzuführen. Alles ändert sich. Intrigen werden gesponnen, Eifersucht und Hass-Gefühle breiten sich aus. Alle leiden, am meisten Alcina, die es mit Ruggiero ernst gemeint hatte. Sie wird indes von Melisso brutal daran erinnert, dass sie eine Käufliche ist.
Doch kann eine Frau, die so tief empfindet und leidet und der Händel die schönsten und ergreifendsten Arien komponierte, ein Ungeheuer, ein männervernichtender Vamp sein? Händel schien anderer Auffassung zu sein, und Horres stützt die musikalische Diktion, indem er den Oberto-Astolfo-Strang ganz einfach streicht. Wenn Alcina am Ende, gedemütigt und gepeinigt, zugrunde geht und Ruggiero ihr Reich verwüstet, wirkt der Sieg der bürgerlichen Moral wie ein Affront gegen Menschlichkeit und Liebe.
In einer musikalisch wie darstellerisch großartigen Ensemble-Leistung gelingt es, mitfühlendes Verständnis für die menschliche Natur mit all ihren Widersprüchen und Schwächen zu erzeugen.
Melanie Kreuter singt sich den Schmerz von der Seele. Ihr melancholischer Grundton kennt dabei noch eine Vielzahl von Gefühlsaffekten. Und ihre Ausdruckskraft weiß zu rühren, zumal wenn sie ganz allein »Ah, mio car«-versehrt die Bühne ausfüllt. Viktoria Granlund schlüpft wie selbstverständlich in die männliche Rolle, spielt diese in all ihren Nuancen aus und würzt mit Koloraturen-Pracht und Pianissimo-Schmelz. Cornelie Isenbürger steht das Kesse ausgezeichnet und ihr schlackenloser Unschuldssopran betört nicht nur Oronte, der tenorale Strahlkraft und Festigkeit vereint. Ebenso überzeugen Kaja Plessing und Michael Bachtadze.
Pulsierende Klangpracht und solistische Brillanz brachte auch das Philharmonische Orchester hervor, das von Gastdirigent Michael Schneider barockkundig und umsichtig geführt wurde. - Alles in allem packend gemacht und für Liebhaber von Barock-Opern ein Muss.

Artikel vom 31.01.2005