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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Es gibt Ereignisse, Gegebenheiten, Verhaltensweisen, die unbegreiflich sind und sinnlos erscheinen. Da verlieren Eltern ihr einziges Kind, an dem sie mir allen Fasern ihrer Liebe hingen, das ihnen Freude schenkte und sie mit Hoffnung erfüllte. Da haben sich zwei Menschen, womöglich aus geringem Anlaß, entzweit und sind seitdem unfähig, ihr Problem auch nur versuchsweise aus innerem Abstand und etwas sachlicher zu sehen, keiner Vernunft zugänglich, sondern verfolgen einander mit tödlichem Haß. Keiner merkt, wie sehr er sich selbst dabei immer mehr zerstört.
Unschuldige Menschen geraten in das Räderwerke kriegerischer Auseinandersetzungen, das viele von ihnen zermalmt. Andere werden aufgrund politischer Verhältnisse, die nicht auf ihr Konto gingen, um Jahrzehnte ihres Lebens betrogen. Auf der anderen Seite ist da ein herzloser Egoist, dem aber alles Gute zuzufallen scheint. Seine Kinder entwickeln sich prächtig und, was er anfaßt, verwandelt sich in Gold.
Warum läßt Gott alles dies zu? Warum greift er nicht ein? Warum ordnet er nicht? Warum gibt es oft so wenig sichtbare Gerechtigkeit? Ein Prophet hat darauf - alttestamentliche Lesung des morgigen Sonntags - eine Antwort empfangen. Doch zunächst einmal ist sie das Gegenteil von einer Antwort: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken« (Jes. 55, 8.9).
Gott ist anders. Er schuldet keinen Einblick in den Plan seiner Gedanken. Er verweigert den Rollentausch, als hätte er sich vor den Menschen zu rechtfertigen und nicht umgekehrt die Menschen vor ihm. Den Propheten erfaßt als erstes eine heilige Scheu. Sie läßt ihn den unendlichen Abstand spüren zwischen Gott und einem Menschen. Gott ist kein Schmusegott. Es gibt ein heilsames Distanzgefühl. Auch wo Gott uns nahekommt, bleibt er unbegreiflich. Seine Daten und Taten sind nicht die unseren; sie bleiben Gaben und Widerfahrnisse im dunklen Schoß der Zeit.
Trotzdem kommt Gott uns näher, als uns mit dieser schroffen Auskunft alleinzulassen. Er ist uns keine Erklärung schuldig, aber er erklärt sich doch. Er gibt zu erkennen, daß er kein Willkürgott ist, »sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.«
Aus früheren Generationen stammt der sogenannte »Webervers«. Mit dessen schlichten Worten sprachen die Menschen die Hoffnung aus, einmal den jetzt noch undurchschaubaren Sinn vieler Dinge zu begreifen. Er lautet: »Es ist das Leben ein Stücklein Zeit, / das still sich webet in Freud und Leid. / Die Fäden gehen krumm und kraus; / Kein Muster findest du heraus. / Im Himmel werden wirÕs verstehn, / wenn wir die rechte Seite sehn.«
Das Vertrauen, das alles seinen verborgenen Sinn in sich trage, den manchmal nur Gott der Herr allein kennt, ist eine einzigartige Kraftquelle zum Leben, gerade da, wo es unheimlich, dunkel und unbegreiflich ist, wo uns Menschen die Hände gebunden sind. Es bewahrt uns auch davor, von der Zukunft nur die Farbe Schwarz zu erwarten oder angesichts der vielen Ungereimtheiten zu Zynikern zu werden. »Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl«, heißt es in einem Liede. Und in einem anderen: »Wenn ich auch gleich nichts fühle / von deiner Macht, / du führst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht.« Oder: »Größer als der Helfer ist die Not ja nicht.«

Artikel vom 29.01.2005