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»Viele ertragen die Wahrheit nicht«

Nach Flutkatastrophe betreut Bielefelder Opferhilfeambulanz Familien von Vermissten

Von Christian Althoff
Bielefeld (WB). Mehr als vier Wochen nach der Flutkatastrophe in Südostasien gelten noch immer sieben Menschen aus Ostwestfalen-Lippe als vermisst. Ihre Angehörigen werden von Oberärztin Dr. Steffi Koch-Stoecker betreut, die die Opferhilfeambulanz am Evangelischen Krankenhaus Bielefeld leitet.
Dr. Steffi Koch-Stoecker kümmert sich um Opfer.
Die Ambulanz war im Sommer vergangenen Jahres vom Versorgungsamt Bielefeld eingerichtet worden und kümmert sich um Opfer von Straftaten und Unfällen aus ganz Ostwestfalen-Lippe. »Denn es passiert immer wieder, dass Menschen etwa durch einen Raubüberfall völlig aus der Bahn geworfen werden. Als Folge erkranken einige an Depressionen oder anderen Leiden, die bis zur Berufsunfähigkeit führen können«, erklärt die Ärztin. Das Versorgungsamt, das in diesen Fällen die Rente zahlen müsste, will deshalb durch eine frühzeitige Betreuung der Betroffenen durch die Opferhilfeambulanz schwereren Folgeschäden entgegenwirken.
»Oft sind es Angestellte von Tankstellen, die sich nach Raubüberfällen an uns wenden, weil sie mit dem Geschehen nicht mehr klar kommen«, berichtet die Ärztin. Die wenigen Sekunden, die sich diese Menschen einem maskierten Täter mit Pistole gegenüber gesehen hätten, reichten manchmal schon, um ein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen: »Die Opfer schrecken nachts auf, weil sie die Bilder immer wieder vor sich sehen und sich jedes Mal erneut in Lebensgefahr wähnen«, erzählt die Medizinerin und Diplom-Psychologin. Viele zögen sich aus dem normalen Alltagsleben zurück und igelten sich zu Hause ein. »Unsere Therapie sieht so aus, dass wird den Überfall immer und immer wieder behutsam mit dem Opfer durchsprechen. Mit der Zeit wird dann aus dem schrecklichen Erleben eine erzählbare Geschichte, und die plötzlichen Panikattacken verschwinden.«
Etwa 50 solche Opfer hatten die Oberärztin und ihre zwei Kollegen seit Einrichtung der Ambulanz schon betreut, als die Flutwelle in Südostasien Weihnachten mehr als 230 000 Menschen in den Tod riss, unter ihnen mehrere hundert deutsche Touristen. Derzeit kümmert sich die Ärztin um die Angehörigen von sieben noch immer vermissten Ostwestfalen. »Die Bilder von der unvorstellbaren Naturgewalt haben diese Menschen traumatisiert und ihre Rationalität außer Kraft gesetzt«, erzählt Steffi Koch-Stoecker. Viele glaubten immer noch, dass ihre Verwandten die Urgewalt überlebt hätten: »Ihr Beurteilungsvermögen ist stark eingeschränkt.« Sie könnten nicht abschalten und mit ihrer Trauer beginnen, weil sie von den immer neuen Bildern in Zeitungen und Fernsehen verfolgt würden und die Traumatisierung deshalb anhalte. »Wir versuchen deshalb, diese Menschen von Mal zu Mal näher an die Realität heranzuführen. Dabei müssen wir immer wieder von neuem ausloten, wie weit wir gehen können.« Denn es gebe auch Angehörige, die trotz mehrerer Therapiegespräche in der Ambulanz weiterhin der Überzeugung seien, dass sich der Vermisste bald bei ihnen melden werde.
»Wenn man im Fernsehen sieht, dass tausende von Toten aus Gründen der Seuchenvorsorge mit Baumaschinen in Massengräber geschoben werden, will man natürlich nicht akzeptieren, dass der eigene Verwandte dabei sein könnte«, erklärt die Ärztin. Zudem erschwere es den Trauerprozess, wenn man als Angehöriger kein Grab habe, das man besuchen könne.
Bis zu zwei Mal in der Woche kommen Verwandte in die Bielefelder Ambulanz, um sich helfen zu lassen. Bei einigen Menschen, die sie betreue, werde es trotzdem noch Monate dauern, bis sie die Wahrheit akzeptieren, befürchtet die Diplom-Psychologin.

Artikel vom 29.01.2005