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Ein Überlebender: »Dieser Tag
lässt mich nie mehr los«

Vor 60 Jahren gehen 9343 Flüchtlinge mit der »Wilhelm Gustloff« unter

Von Dirk Schröder
Bad Salzuflen (WB). Zweiundsechzig Minuten dauert der Todeskampf der »Wilhelm Gustloff«. 9343 Flüchtlinge finden bei der größten Schiffskatastrophe aller Zeiten den Tod, darunter mehr als 5000 Kinder. Nur 1239 Menschen überleben - unter ihnen der damals 18-jährige Zahlmeister-Assistent der Handelsmarine, Heinz Schön. Am Sonntag jährt sich diese Tragödie zum 60. Mal.
Heinz Schön (l.) im Gespräch mit dem Schriftsteller Günter Grass, der in seiner Novelle »Im Krebsgang« die »Gustloff«-Tragödie in den Mittelpunkt stellte.

Der heute 78-jährige Schön, der als einer der 55 letzten Gustloff-Überlebenden in Bad Salzuflen lebt, weiß, dass er in der Nacht vom 30. zum 31. Januar, wie in all den Jahren zuvor, keinen Schlaf finden wird. Schön: »Ich werde die mit dem Tode ringenden Menschen vor mir sehen, die weinenden Frauen, die ihre Kinder verloren haben, die betenden Greise, die Kinder, die wimmernd ihre Mütter suchen. Und dann sehe ich die ÝGustloffÜ, wie sie mit tausend Lichtern und dem Todesschrei Tausender untergeht. Ich sehe heute noch das Meer von schwimmenden Köpfen über der Ostsee, Köpfe von Toten und noch Lebenden. Dieser Tag wird mich zeitlebens nicht mehr loslassen.«
Schön, Träger des Bundesverdienstkreuzes und zahlreicher weiterer Ehrungen, gilt als international anerkannter bester Kenner der »Gustloff«-Katastrophe und hat dies auch in mehreren Büchern dokumentiert. Die »Gustloff«, gedacht für 1463 Passagiere und 417 Besatzungsmitglieder, war 1938 als »Kraft durch Freude-Schiff« in Dienst gestellt worden.
Blenden wir 60 Jahre zurück: Am Mittag des 30. Januar 1945 lichtet die »Wilhelm Gustloff« in Gotenhafen an der Danziger Bucht die Anker. An Bord sind 10 582 Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen, Danzig und Pommern, die vor der heranstürmenden Roten Armee zu entkommen hoffen. Es sind Frauen, Kinder, Verwundete, aber auch Soldaten einer U-Boot-Lehrdivision.
Fahrziel ist Kiel. Die Schiffsleitung rechnet mit Luftangriffen feindlicher Flugzeuge, die Gefahr eines U-Boot-Angriffes sieht sie nicht. Zahlmeister-Assistent Schön verlässt kurz nach 21 Uhr das Zahlmeisterbüro und geht in seine Kabine. Es ist 21.16 Uhr, als ein gewaltiger Schlag das Schiff trifft. Schön: »Ich höre das Krachen einer Detonation. Ein mächtiger Luftdruck schleudert mich gegen die Wand, raubt mir den Atem. Dann ein zweiter Stoss, noch gewaltiger als der erste - dann ein dritter. Das Licht verlöscht, ich ringe nach Luft.«
Schön ist kurz gelähmt, doch dann geht alles sekundenschnell. Während die Schlagseite des Schiffes weiter zunimmt, stürzt er zur Tür, die verklemmt ist. Durch einen engen Spalt zwängt er sich auf den Schiffsgang. Dort erwartet ihn die Hölle. Zehntausend Menschen wollen nach oben zu den Booten, um ihr Leben zu retten. In panischer Angst stürzen die Menschen auf die breite Treppe, die nach oben führt. Schön: »In ihrer Verzweiflung stoßen sich die Menschen von den mühsam erklommenen Treppenstufen. Wer fällt, wird niedergetrampelt. Erbarmungslos stürmt die Masse über einen fast meterhohen Teppich lebender und toter Menschenleiber nach oben. Und ich - ich bin mitten unter ihnen.«
Vor den Rettungsbooten drängen sich Hunderte. Marineoffiziere überwachen die Beladung. »Nur Frauen und Kinder in die Boote.« Schöns Bemühen, sein Boot zu erreichen, dem er als Steuermann zugeteilt war, scheitert. Ein Offizier drückt ihm seine Pistole gegen die Brust: »Zurück oder ich schieße.« Kurz bevor der 208 Meter lange Schiffskoloss endgültig kentert, findet sich Schön auf einem Floß wieder. Zwei Männer hatten ihn im letzten Moment aus der zwei Grad kalten Ostsee gezogen.
Am Sonntag nimmt Schön am früheren Hafen der »Gustloff« in Gotenhafen - heute das polnische Gdynia - an einer Gedenkfeier teil. Gram gegen die russische U-Boot-Besatzung hegt der Salzufler nicht. Schon zweimal hat er den Torpedisten besucht, der die tödlichen Geschosse abgefeuert hat. Mit seinen Büchern hat Schön den unschuldigen Opfern der Katastrophe, aber auch den Rettern, die unter Einsatz ihres Lebens mehr als 1200 Menschen vor dem Tod des Ertrinkens bewahrten, ein Denkmal setzen wollen. Zugleich will er aber auch dazu beitragen, dass diese Tragödie nicht in Vergessenheit gerät. Schön: »Es soll künftigen Generationen eine Mahnung sein, wohin Gewaltherrschaft und Diktatur führen - zu Leid, Tränen und Tod.«

Artikel vom 29.01.2005