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»Die Samthandschuhe ausziehen«

Deutschland gedachte der Opfer nationalsozialistischer Gewalt

Berlin (dpa). Der Deutsche Bundestag hat gestern in einer bewegenden Gedenkstunde an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt erinnert und zur Wachsamkeit gegen Rechtsradikale aufgerufen.
Der jüdische Historiker und Holocaust-Überlebende Arno Lustiger sprach gestern auf der Gedenkfeier im Deutschen Bundestag.
Anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz prangerten Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der jüdische Professor Arno Lustiger, Überlebender des Holocaust, den Auftritt der NPD im sächsischen Landtag an. Der Schriftsteller und Liedermacher Wolf Biermann trug aus dem »Großen Gesang des Jizchak Katzenelson vom ausgerotteten Jüdischen Volk« vor, den er mit Hilfe Lustigers aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzte.
Rechtsextremistische Einstellungen seien in Teilen der Gesellschaft fest verankert, beklagten Thierse und Lustiger, ein Cousin des Pariser Kardinals Jean-Marie Lustiger. Auch in mehreren Landtagen fanden Gedenkfeiern statt.
»Rechtsextreme Politiker haben jüngst in einem deutschen Parlament gewagt, die Barbarei des Holocaust zu relativieren und den Opfern den Respekt zu verweigern«, sagte Thierse. »Die Abgeordneten der NPD in Dresden haben ihre Maske fallen lassen und es ist für jeden endgültig sichtbar: Es sitzen wieder Neonazis in einem deutschen Parlament. Das ist eine Schande und es ist eine enorme Herausforderung für uns alle.«
Mit den Rechtsextremen müsse die politische Auseinandersetzung offensiv gesucht werden, forderte der Bundestagspräsident. Lustiger fragte als Überlebender mehrerer Konzentrationslager in seiner bewegenden Rede: »Ist es nicht an der Zeit, dass deutsche Verfassungsrichter ihre Samt-Handschuhe ausziehen, wenn es sich um Feinde unserer Verfassung und Demokratie handelt?« An der Gedenkstunde nahmen auch Bundeskanzler Gerhard Schröder, das gesamte Kabinett sowie weitere Überlebende des Holocaust teil.
»Wegschauen, ignorieren, schweigen, all das dürfen wir Demokraten nicht tun«, sagte Thierse. »In Dresden und überall in Deutschland müssen wir verhindern, dass die Erinnerung an die deutschen Opfer und die Trauer über das Leid auch der Deutschen missbraucht wird für neonazistische Propaganda.«
Lustiger erinnerte daran, dass im September 1944 in Deutschland nur noch 14 000 von einstmals 550 000 Juden lebten. Er machte aber auch auf jene Deutsche aufmerksam, die Juden während der NS-Zeit versteckten und ihnen so das Leben retteten. Lustiger wie auch Thierse erinnerten an den oft vergessenen jüdischen Widerstand in Konzentrationslagern.
Im Anschluss an die Gedenkstunde diskutierten Jugendliche über die »Zukunft der Erinnerungsarbeit«. 100 Schüler und Studenten aus Polen, Norwegen, Frankreich und Deutschland trugen selbstverfasste Thesen zu Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit vor.

Artikel vom 28.01.2005