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Duncan warf einen prüfenden Blick an sich herab. Er war sportlich angezogen, mit einer für das englische Herbstwetter gedachten Tweed-Jacke in gedämpften Grün- und Brauntönen, fast zu warm für die milden Tage in Italien. Er hatte mehr unter praktischen als modischen Gesichtspunkten seine Garderobe ausgewählt und fühlte sich in seinem soliden Outfit fast ein wenig zu brav gekleidet. Er strich die Falten seiner Hose glatt und zog die herausstehenden Hemdmanschetten unter die Jackenärmel. Er hatte gerade noch Gelegenheit, das Frühstücksgeschirr vom Tischrand zurückzuschieben, da stand die Gestalt der jungen Dame schon in der Türöffnung zur Terrasse. Sie sah in seine Richtung. Ihre Augen begegneten sich. Ihre Blicke taxierten ihn. Duncan erhob sich É
»Mister Munro?«
Er war wie elektrisiert von der pointierten Aussprache und der Melodie, die sein Gegenüber in die Folge weniger Silben zu legen wusste. »Ja! Signora Vasari É?«
»So ist es. Willkomen in Asolo!«
Duncan war freudig überrascht vom jugendlichen Reiz seiner Auftraggeberin. Die dunkle Färbung ihrer Stimme am Telefon hatte ihm die Vorstellung einer Frau in reiferen Jahren vermittelt. Doch nun, aus der Nähe betrachtet, fühlte er sich von ihrer Frische und Schönheit angezogen. Er spürte instinktiv, dass seine Mission plötzlich in eine neue, unerwartete Perspektive rückte.
»Habe ich Ihnen zu viel versprochen?«, fragte die junge Dame mit einer Geste zu dem prächtigen Ausblick hin.
»Nicht im Geringsten«, bekannte Duncan so spontan wie unverfänglich, »ich wüsste mir jetzt keinen schöneren Ort. Sie passen sehr gut hierher, wenn ich das so sagen darf É«
Aber sein schönes Gegenüber überhörte die Bemerkung. »Ich habe das große Glück, hier wohnen zu können. Andere kommen von weither, um diese Harmonie von Natur und Geschichte zu bestaunen.«
»Das wird jedem klar, der diesen Blick von hier oben genießen kann. Gewundert habe ich mich allerdings über den englischen Namen Ihrer Adresse.«
»Via Robert Browning? Oh, ich denke, der Name Ihres Landsmannes macht Ihnen unsere Landschaft nur vertrauter. Kennen Sie seine Lebensgeschichte?«
Wollte sie ihn auf die Probe stellen? Von einem Maler dieses Namens hatte er noch nie gehört. Er legte seine Stirn in Falten, als würde er intensiv nachdenken: »Ich habe die Einzelheiten vergessen, Signora Vasari. Wahrscheinlich hat er sich hier niedergelassen, nachdem er durch seine Erfindungen reich geworden war. Mein Vater hat noch eine Browning, ein prächtiges Stück É« Duncan hielt ein, weil ihn Livia amüsiert ansah und nur mühevoll ein spöttisches Zucken ihrer Mundwinkel zu unterdrücken versuchte.
»Prüfungsfrage bestanden?« Er lächelte entwaffnend.
»Das war nicht meine Absicht, Mister Munro. Aber Sie haben reagiert wie die Amerikaner. Denen hat mein Onkel dann immer listig erzählt, dass die Via Eleonora Duse eigentlich Via Winchester genannt werden sollte, weil Winchester zusammen mit Browning dort Schusswaffen entwickelt hat.«
»Schnellfeuerkanonen, Selbstladepistolen und Gewehre É«, deklamierte Duncan.
»Schrecklich, davon verstehe ich nichts«, erwiderte sie, legte ihre Hände auf das Geländer und blickte sich um. »Krieg hat es hier genug gegeben. Seien wir froh, dass wir hier jetzt so friedlich die Morgensonne genießen dürfen.« Daraufhin wandte sie sich Duncan mit ernster Miene zu. »Was ich brauche, Mister Munro, ist keine Schusswaffe und auch kein Gedicht von Ihrem englischen Landsmann Robert Browning« - dabei blinzelte sie ihn belustigt an -, »sondern eine Expertise - und ein Experte, der überzeugen kann und verhindert, dass mich Leute beschwindeln und mir meinen kostbarsten Besitz entwerten.«
»Lassen Sie es uns versuchen. Wenn Ihre Vermutungen zutreffen, haben wir gute Chancen, in eine spannende fachliche Auseinandersetzung mit Kunstspezialisten einzutreten, an deren Ende ein neuer Velázquez stehen könnte.«
Duncans Worte zauberten ein Lächeln in Livias Gesicht. Seine Hand zeigte auf die Stühle vor ihnen. »Wollen wir uns setzen?«
»Gern.« Livia nahm zögernd Platz. Es schien, als ob ihre Probleme schwer auf ihr lasteten. Auch der herrliche Ausblick von der Terrasse konnte diesen Druck offenbar nicht von ihr nehmen.
»Ich bin beglückt, dass Sie mir helfen wollen É«, sagte sie erst optimistisch. Kurz darauf schien ihre Skepsis wieder zu überwiegen: »Ich fürchte jedoch, es wird nicht einfach sein.«
»Was fürchten Sie?«
»Es wird eine äußerst harte Auseinandersetzung werden. Ich weiß nicht, ob Sie die Tücken dieser Branche schon so unangenehm erlebt haben wie ich.«
»Nun, ich habe mich bislang nie entmutigen lassen. Was hat Sie denn so unangenehm berührt?«
»Mir ist in den vergangenen Monaten klar geworden, dass es ungeheure Widerstände gegen die Anerkennung eines bisher unbekannten Wertobjekts gibt. Jeder kennt die Geschichte von Cinderella, die in Wirklichkeit eine Prinzessin ist. Aber wenn Sie tatsächlich so ein Aschenputtel besitzen, dann hilft Ihnen Ihre Überzeugung gar nichts, sondern Sie haben zunächst einmal ganz schlechte Karten. Sie werden verdächtigt und mit unseriösen Angeboten konfrontiert. Von den zweifelhaften Typen ganz zu schweigen.«
Duncan nickte zustimmend: »Ich habe das bei verschmutzten Bildern erlebt, bevor die Restauratoren die strahlende Schönheit aus der Asche befreiten. Bis dahin brauchen Sie viel Geduld. Und wenn die Sache sich zu Ihren Gunsten wendet, dann kommen noch einige besondere Experten und machen ihre Zustimmung von einer Beteiligung an der Wertsteigerung abhängig.«
»O Gott! So weit wäre ich gern schon. Aber im Ernst: Meine Hoffnung ist, dass wir wirklich alle Möglichkeiten ausschöpfen É« Livia vollendete den Satz nicht, sondern sah ihn nachdenklich an.
Duncan erahnte den Grund ihres Zögerns. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich historische Recherchen durchführe und angesehene Fachleute aufgrund von Tatsachen überzeugen konnte.«
»Oh, das macht mir Mut É«, sagte sie und zögerte etwas. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie so direkt frage: Worum handelte es sich dabei?«
»Ich habe für verschiedene Sammler in England die Autorschaft ihrer Bilder geklärt und einigen auch große Namen zuordnen können. Zum Beispiel Rubens oder Gainsborough. Vorzügliche Bilder, die verschmutzt und durch Übermalungen entstellt waren.« Erklärend fuhr er fort: »Ich bin zwar nicht die bekannte große Autorität, die selbst über Zuschreibungen entscheidet. Aber wenn ich alle stilistischen und historischen Argumente erfasst habe, dann weiß ich, an welche namhaften Leute ich mich zu wenden habe, um meinem Urteil Geltung zu verschaffen.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.02.2005