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Tempo, Tempo im
Orkan der Leidenschaft

Viel Beifall nach grandioser »Platonow«-Premiere

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Dorfschullehrer Michail Wassiljewitsch Platonow hat nichts gemacht. Außer Wind. So gesehen, formt Bielefelds neuer Intendant Michael Heicks aus »nichts« eine sensationelle Inszenierung: donnernder Applaus zur Premiere des »Platonow« am Sonntag im Theater am Alten Markt.

Ossip ist nervös. Seine Kapelle hat Verspätung, und gleich wollen die Schönen, die Reichen und die Intelligenten ein Fest feiern. Kaum sind die Gäste eingetrudelt, fliegen die Gehässigkeiten hin und her. Und über all den selbstverliebten, selbstgerechten Gestalten thront Platonow, gegen dessen Zynismen kein Kraut gewachsen ist.
Wenn Michael Heicks inszeniert, muss dem Kulturfreund um die Zukunft des Theaters nicht länger bange sein. Einmal mehr gelingt ihm der Balanceakt zwischen E wie Ernst und U wie Unterhaltung. Trotz aller Komik verwechselt er Tschechows Erstling nicht mit einem Betrunkenenwitz, sondern leitet den Fluss des Wodkas gezielt in sein Bett: Bei Heicks dürfen die Schauspieler taumeln und torkeln, soviel sie wollen, wenn sie nur das Wesen ihrer Rolle erfassen und jede Untiefe in ihr ausloten.
Genau das beherrscht das Ensemble. Sensationell. Da fliegen drei Stunden vorüber, in denen uns die Akteure vorführen, wie im untergehenden Zarenreich gefeiert und geliebt, gestritten und gelitten wird. Gerade denkt man, das Stakkato der Attacken lasse sich nicht mehr steigern, da setzt Heicks' Spitzentruppe noch eins drauf - nach der Pause, als die Schlacht geschlagen ist, macht sie die seelischen Verwüstungen sichtbar, die der Orkan der Leidenschaften angerichtet hat.
Thomas Wolff in der Titelrolle gibt den Intellektuellen, der sich dagegen verwahrt, für die zerstörerischen Folgen seiner Zynismen haftbar gemacht zu werden. Den Platonow-Freund Trilezkij baut Thomas Wehling zur dankbarsten Rolle aus; in ihm begegnet uns ein sensibler Spaßvogel, ein Fetentyp mit emotionalem Tiefgang.
Florian von Manteuffel legt den Wojnizew als Omega-Männchen an: Er tut, was die Rudelführer sagen, und heult, wenn sich die eigene Frau an den Stärksten anpirscht. Diese wiederum (Lisa Wildmann als Sofja)ĂŠversucht sich zwischen schmückendem Beiwerk (sprich: Ehefrau) und selbstbestimmtem Leben zu definieren.
Die Frauenrollen wirken schwächer als ihre männlichen Widerparts. Mit Ausnahme der Grekowa (Ines Buchmann) finden sie die Sicherheit attraktiv, die ihnen ein fester Partner bietet. Entschlossenheit jedenfalls legen Platonows Ehefrau Sascha (Katharina Zoffmann) und die gastgebende Wojnizewa (Christina Huckle) erst an den Tag, als sich ihre Träume von Zweisamkeit zerschlagen haben.
Hilflos wie ein erstverliebter Jüngling sabbert Gutsbesitzer Glagoljew (Klaus Lange) die Wojnizewa an, resigniert vorzeitig und beschließt, an der Seite seines Sohnes (Andreas Hielscher als Taugenichts der Jeunesse dorée) seinen Frust im Sündenpfuhl Paris zu ertränken. Die materiellen Gewinner der Geschichte sind Schweine in Menschengestalt, von Max Grashoff als Abram Abramowitsch und Helmuth Westhausser als Bugrow so überlegen wie schmierig verkörpert.
Starken Eindruck hinterlässt Mathias Reiter als Ossip der Outlaw: Er spielt den Underdog, der so gerne Spießbürger wäre, mit Inbrunst. Ein Gewinn für die Inszenierung (Bühnenbild: Annette Breuer) ist Heicks' Idee, eine Live-Kapelle (Patrick Cybinski, Paul Keller, Georg Kocherscheidt, Boris Nicolai, Ines Buchmann, Mathias Reiter) zu integrieren.
Die nächsten Vorstellungen: 26. bis 30. Januar, 3. bis 6. sowie 8./9. Februar, 15./16. sowie 19. bis 21. Februar. Weitere Aufführungen sind geplant.

Artikel vom 25.01.2005