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Geschichten für gute Tage
Wie es dazu kam, dass die Sonne einmal wütend wurde
Gute-Nacht-Geschichten kennt ihr ja. Die braucht man schließlich zum Einschlafen. Aber eine Guten-Tag-Geschichte? Was ist das, gibt es die überhaupt?
Langsam kroch die zerknirschte Sonne aus ihrem Wolkenbett und guckte über den Rand des Horizontes auf die schlafende Erde hinunter. Sie schob den dunkelblauen Nachthimmel ein Stück beiseite und machte sich bereit für den neuen Tag. Aber eigentlich hatte sie gar keine Lust dazu.
An diesem Morgen wollte sie den Menschen auf der Erde den Tag gar nicht erhellen, weil sie ein wenig wütend war.
Erst gestern Abend hatte sie den fröhlichen Mond getroffen. Glücklich und zufrieden hatte er der Sonne davon berichtet, wie schön es sei, den wundervollen Gute-Nacht-Geschichten der Menschen zu lauschen und zu hören, was sie über ihn, die Nacht und die goldenen Sterne erzählten.
Nachdenklich war die Sonne vom Himmel verschwunden und hatte sich gefragt, warum es eigentlich keine Guten-Tag-Geschichten gab. Natürlich wurden in Geschichten immer mal wieder die Sonne und der Tag erwähnt, aber das war nicht dasselbe. Eine eigene Geschichte wollte sie haben, eine, die nur von ihr erzählte. Die halbe Nacht hatte die Sonne nachgedacht und war am Morgen verärgert und unausgeschlafen aufgewacht.
Beleidigt beschloss sie, sich den Tag über hinter den grauweißen Wolken zu verkriechen und keine wohlig wärmenden Strahlen auf die Erde zu werfen.
Und so tat sie es dann auch. Einige Zeit jedenfalls hockte sie hinter den Wolken. Sie guckte in den blauen Himmel, putzte ihre Strahlen und fing gelangweilt an, die Wolken zu zählen. Dann jedoch wurde sie unruhig und zappelte hin und her. Sie war einfach viel zu neugierig, um den ganzen Tag alleine herumzuhängen und sie fing an, die Menschen zu vermissen. Viel zu gerne schaute sie ihnen zu, wie sie ihren Tag verbrachten, und so blinzelte sie heimlich durch eine dünne Wolke hindurch.
Als sie sah, wie sehr sich die Menschen freuten, ihre wärmenden Strahlen zu spüren, konnte sie ihnen gar nicht mehr böse sein. Energisch schob sie die dicke Wolkengruppe beiseite, machte sich wieder am Himmel breit und freute sich wie immer: über die Menschen, denen sie immer ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte, über die Kinder, die in ihrer Wärme spielten und die Pflanzen, die durch ihre Strahlen wuchsen. Jeder liebte sie offensichtlich.
Wozu brauchte sie da eigentlich noch eine Guten-Tag-Geschichte?

Artikel vom 05.02.2005