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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Dr. Dr. Markus Jakobs


Ein falscher Klick mit der Maus - schon ist das Desaster eingeleitet: Eine Datei überschreibt eine andere. Die Daten sind (fast) unwiederbringlich weg. Schrecksekunden dieser Art kennt vermutlich jeder Computernutzer. Nur einmal nicht aufgepasst, eine Anfrage nicht ernst genommen wie »Wollen Sie Datei É wirklich ersetzen durch É?« - schon ist es passiert. Die mühsame Arbeit von Stunden oder eine wertvolle Erinnerung kann überschrieben sein mit irgendetwas anderem.
Unser Gehirn ist kein Computer. Aber Ähnlichkeiten bestehen. Deshalb hörte ich vor kurzem jemanden sehr nachdenklich vor sich hin sagen: »Diese Erinnerung ist einfach von der Festplatte in meinem Gehirn verschwunden. Wahrscheinlich ist sie von Neuem überschrieben worden. Ich muss wahrscheinlich zu viel im Kopf behalten.«
Diese Erfahrung kann man auf den religiösen Zusammenhang anwenden: Viele Zeitgenossen machen religiöse Erfahrungen mehrheitlich in der Kindheit und Jugend. Gemeinsam gebetet wird in unseren Familien zumeist nur mit den kleinen Kindern. Später unterbleibt gemeinsames Beten. Mit Kindern wird auch wesentlich häufiger eine religiöse Veranstaltung aufgesucht. Es gehen zum Beispiel mehr Familien mit Kindern an Weihnachten in die Kirche als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.
Und auch in den nicht konfessionell gebundenen Kindergärten wird sehr viel religiöses Brauchtum gepflegt. Kinder bekommen also mehr religiöse Informationen auf die Festplatte ihres Gehirns geschrieben als durchschnittliche Erwachsene.
Dann aber folgt so viel anderes, so viele weitere Informationen werden verarbeitet. Und irgendwann scheinen diese frühen »religiösen Dateien« auf der Festplatte unserer Seele überschrieben. Auf jeden Fall verblasst und verschwindet manche Erinnerung. Ist das alles unwiederbringlich verloren, wie eine überschriebene Datei auf einem Computer?
Es gibt aber eine Vielzahl von Erfahrungen, die auf etwas anderes hindeuten. Wer zum Beispiel einmal dem Besuch eines Geistlichen am Bett eines Schwerkranken oder eines sterbenden Menschen beigewohnt hat, ahnt, was gemeint ist. Da liegt jemand vielleicht schon seit Wochen fast »erstummt« in seinem Bett und plötzlich vermag dieser Mensch angesichts des Priesters in der Zeremonie der Krankensalbung wieder ganze zusammenhängende Gebete aufzusagen und alle wesentlichen Gesten mitzuvollziehen. Genau so kommt bei lange »religionslos« lebenden Erwachsenen in einer Gefahrensituation bei Unfällen oder ähnlichem plötzlich ein lange vergessenes Stoßgebet aus der Kindheit hoch.
Unsere Seele, unsere Erinnerung, unsere innere Festplatte überschreibt nicht endgültig. Denn wie kundige Computerfachleute auch scheinbar überschriebene Dateien mit einigen Tricks aus den verborgenen Speichern der Festplatten wieder an die Oberfläche holen können, so verliert unser Inneres wesentliche Eindrücke nicht gänzlich. Dies ist ein Trost: Wir tragen noch viel mehr religiöses Grundwissen in uns, als an der Oberfläche aktuell abrufbar ist.
Wir tun aber gut daran, aus dieser Einsicht nicht einen falschen Trost zu formen: Glauben ist nie nur etwas für die Endpunkte des Lebens oder für Notfälle. Wenn Gott mich liebt und wenn der Glaube Antwort auf diese Liebe ist, was wäre das dann für eine Liebe, die sich auf Gefahrensituationen, Krankheit oder gar Tod beschränkte? Je mehr religiöse Dateien auf direkt auf dem »Desktop« liegen, also richtig an der Oberfläche meiner »Seelenfestplatte«, desto größer ist mein Alltagsgewinn aus dieser Liebe, dieser Beziehung zu Gott. Und es lohnt sich dafür auch sehr, manche Erinnerungen wieder lebendig werden zu lassen.

Artikel vom 22.01.2005