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Für die musikalische Gourmandise »Alcina« schlug Barockspezialist Schneider sogar ein Gastdirigat bei der Israel Camerata aus: »Eigentlich wollte ich in der Premierenwoche in Israel sein«, erzählt er. Doch als Bielefeld im Oktober vergangenen Jahres anfragte, ob er kurzfristig die Leitung der 1735 im Covent Garden uraufgeführten Oper übernehmen wolle, konnte der 51-jährige Händel-Fan nicht widerstehen. Was ihn an dem Werk fasziniere, sei die »ungeheure emotionale Bandbreite« und die für die psychologische Ausleuchtung der Charaktere so »interessante und visionäre Musik«.
Dabei erscheint die Handlung auf den ersten Blick keineswegs kompliziert: Alcina lockt die Männer zuhauf auf ihre verlassene Insel und verführt sie mittels Zauberkraft. Wenn sie ihrer überdrüssig wird, verwandelt sie die abgelegten Lover in Steine, wilde Tiere, Bäume oder Wellen. Doch anstatt Alcina als herzloses Ungeheuer zu verteufeln, zeichnet Händel in seiner Musik das Porträt einer verwundbaren Frau, die sich in Liebe verzehrt und daran letztlich zugrunde geht.
»Was Händels Musik so ansprechend macht, ist sein mitfühlendes Verständnis für die menschliche Natur. Moralisch war er mit Alcina seiner Zeit weit voraus, auch wenn er die emanzipierte Frauengestalt nur im Gewand einer Zauberin auf die Bühne bringen konnte«, sagt Schneider, der als Garant dafür steht, dass das Werk im stilechten barocken Affetto erklingt.
Die Referenzliste, die der im Rheinland aufgewachsene Musiker mitbringt, ist so vielfältig wie beachtlich: Gastdirigate mit so profilierten Orchestern wie dem Züricher Kammerorchester und der Cappella Coloniensis reihen sich an zahlreiche Opernleitungen (unter anderem Händels »Deidamia«). Daneben aber hat sich Michael Schneider als Flötist einen Namen gemacht und annähernd das gesamte Repertoire für Blockflöte auf CD eingespielt. Der Gewinner des ARD-Musikwettbewerbs gründete 1979 die »Camerata Köln«. Anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens porträtiert der WDR das renommierte Kammerensemble am Samstag, 29. Januar, in seiner Sendung »Nachtmusik«. »Das ist auch der Grund, weshalb wir die ÝAlcinaÜ-Premiere um einen Tag nach vorn verschieben mussten«, erklärt Schneider, der es im Übrigen bei der einen Ensemble-Gründung nicht beließ und 1988 »La Stagione Frankfurt« aus der Taufe hob.
Dirigieren und solistisch brillieren - das schließt sich für Schneider, der nie ein Dirigierstudium anstrengte, nicht aus. Im Gegenteil: »Eines ergibt sich aus dem anderen und ergänzt sich«, sagt das Allround-Genie. In logischer Konsequenz daraus ergab sich dann die Lehre, sagt Schneider. Zunächst als Professor für Blockflöte an der Hochschule der Künste in Berlin, seit 1983 als Leiter der Abteilung »Alte Musik« und Vizepräsident der Musikhochschule Frankfurt am Main, wo Michael Schneider den Studiengang »Historische Interpretationspraxis« einrichtete.
Nach der Rehabilitierung Alter Musik steigt auch die Nachfrage nach der historischen Aufführungspraxis. »Sich mit den Spielweisen vertraut zu machen, um sich als Musiker höher zu qualifizieren, wird immer wichtiger«, sagt Michael Schneider, der mit Freude feststellen konnte, dass im Bielefelder Orchester zahlreiche Streicher zum Barockbogen greifen und mit alten Spieltechniken vertraut sind. Überhaupt sei er erfreut, »wie das klingt«, sagt Schneider. Neben einem ausgezeichneten Continuo-Apparat (»die Seele des Stücks«) sorgte Schneider mit einer unkonventionellen Sitzordnung im Orchestergraben für optimale Klangergebnisse. Nicht verschweigen will er auch die gute Akustik der Oetkerhalle, die er bereits vor 30 Jahren bei Tonaufnahmen mit der Cappella Coloniensis schätzen lernte.

Artikel vom 22.01.2005