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»Da musste man einfach etwas tun«

Gruppe »agape« hilft seit 15 Jahren behinderten und benachteiligten Menschen in Rumänien

Von Ingo Steinsdörfer
Bad Salzuflen (WB). Als Rüdiger Frodermann und seine Freunde in den ersten Januartagen des Wende-Jahres 1990 erschreckende Bilder von völlig verwahrlosten Kindern aus »Heimen« des zerbröckelnden Ceausescu-Staates im Fernsehen sahen, gab es für sie keine Alternative: »Da musste man etwas tun«, sagten sich der damals als Erzieher in Be-thel tätige Lemgoer und einige Bekannte. Sie riefen die Gruppe »agape« (Liebe) ins Leben. 15 Jahre sind seitdem vergangen.

In dieser Zeit hat die ostwestfälisch-lippische Rumänienhilfe mit Sitz in Bad Salzuflen ein Werk geschaffen, das (nicht nur) für Rumänien Modellcharakter besitzt. Gemeinsam mit vielen Menschen, die aktiv anpacken oder durch ihre Sach- und Geldspenden dabei sind, wurden in Siebenbürgen Heime mit menschenwürdigen Plätzen für 110 geistig behinderte Kinder sowie ein ganzes Kinderdorf in Sercaia, in dem 52 verwaiste oder verlassene Kinder ihr Zuhause gefunden haben, geschaffen. Viele Bedürftige konnten mit Hilfe der rumänischen Partnervereine mit Hilfsgütern - und wenn es »nur« das tägliche Brot ist - versorgt werden.
Die ambulante Altenhilfe in Fagaras versorgt aktuell 30 allein stehende Menschen, nicht die mitgezählt, die bis zum Tod gepflegt wurden und würdig aus dem Leben geschieden sind. Die dortige Sozialstation organisiert das Projekt 200 Brote für täglich 200 Familien, betreut etwa 60 gehörlose Menschen. Und die Sozialarbeiterinnen sind Ansprechpartnerinnen für viele Kinder, die ihr tägliches Überleben erbetteln müssen.
Seit Jahren gibt es bereits eine kleine Werkstatt für Behinderte, in die junge Erwachsene gehen, die in Fagaras in ihren Familien wohnen. Eine Kinderkrankenschwester besucht täglich das Krankenhaus, fördert geistig behinderte Kinder vor dem dritten Lebensjahr. In Fagaras entstand eine neue Bäckerei, die etwas Gewinn für die soziale Arbeit erwirtschaftet. Allein hier sind 19 Arbeitsplätze entstanden.
In Alba Iulia wurde der ehemalige rumänische Partnerverein Diakonia der Selbständigkeit übergeben. Eine Mühle und eine Bäckerei tragen dazu bei, dass das Projekt läuft. Mehr als 300 Hilfsgütertransporte wurden durchgeführt. Rüdiger Frodermann, für den »agape« zur Lebensaufgabe geworden ist: »Allen Menschen, die das alles im Laufe der Jahre unterstützt haben, ganz herzlichen Dank.«
Nach wie vor gehört Rumänien zu den ärmsten Ländern Europas. Laut Weltbank leben 1,85 Millionen Rumänen (8,6 Prozent) unter der bittersten Armutsgrenze mit einem Einkommen von 30 Euro im Monat. Unter der »normalen« Armutsgrenze, mit einem Einkommen von etwa 44 Euro, leben 5,4 Millionen Rumänen - ein Viertel der Bevölkerung. Die Region um Fagaras gilt als eine jener mit den höchsten Arbeitslosenquoten in Rumänien. Besonders betroffen von dieser Armut sind Kinder und ältere Menschen. Für sie wurde von »agape« das Projekt 200 Brote für täglich 200 Familien ins Leben gerufen: Menschen aus Deutschland können monatlich 15 Euro spenden und sichern damit einer ganzen Familie das tägliche Brot.
Der Partnerverein Diakonia hält den Kontakt zu diesen Familien. Frodermann: »Manchmal waren die Verhältnisse so schlimm wie im Fall von Frau Tinca. Mit ihren fünf Kindern lebte sie in einem ehemaligen Trafohäuschen, ohne Wasser und Strom. Mit Hilfe einiger Sponsoren konnte die Familie eine bescheidene Zweiraumwohnung beziehen - für sie der Himmel. Die Kinder gehen heute in die Schule und in den Kindergarten.«
Im Juni 2004 konnten »agape« und Diakonia Fagaras eine neue Werkstatt für geistig behinderte Menschen einweihen. In zweijähriger Bauzeit entstand sie auf dem Gelände des Kinderheimes Canaan in Sercaia. Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche von Deutschland und die Geseker Karl Bröcker Stiftung unterstützten das Vorhaben. Werkstätten dieser Art gibt es höchstens vier in ganz Rumänien. Nach Bethel-Vorbild können damit alle, die als Kinder in das »agape«-Heim Canaan kamen, bis zu ihrem Lebensende dort bleiben. Frodermann: »Sonst bliebe ihnen nur die Unterbringung in einer staatlichen Psychiatrie, ohne Beschäftigung. Kinder, die im Heim Canaan groß geworden sind, wurden von klein auf liebevoll zur Selbständigkeit erzogen und auf eine Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte vorbereitet. In einer staatlichen Psychiatrie würden diese Menschen verwahrlosen.« Der rumänische Staat sei zwar bemüht, das Erbe aus vergangenen Zeiten zu beheben. Doch es fehlt am Geld.
Auch bei »agape« wird mit spitzem Stift gerechnet. Rüdiger Frodermann: »Vor eine besondere Herausforderung hat uns die Aufnahme von elf neuen Kindern im November 2003 gestellt. Viele davon sind geistig schwerstbehindert und brauchen ein besonderes Betreuungsangebot, das auch uns an die Grenzen bringt. Doch was wäre die Alternative?«
Leon ist eines dieser Kinder. Er wurde am 13. September 2000 geboren. Er ist mit einem sehr kleinen Kopf geistig behindert auf die Welt gekommen. Seine Mutter wohnt in einem Nachbardorf, etwa fünf Kilometer vom Heim entfernt. Mit 22 Jahren hatte sie bereits zwei Kinder, Leon war das Dritte. Sie lebt in bitterarmen Verhältnissen in der Lehmhütte ihrer Eltern. Seine Mutter und die Großmutter besuchen Leon regelmäßig. Sie bekommen dann auch immer Kleidung und manchmal auch Lebensmittel aus den Hilfsgütern. Frodermann: »Leon hätte keine Chance, bei seiner Mutter zu überleben. Er wird nun gut betreut. In dem einem Jahr, das Leon bei uns ist, hat er schon enorme Fortschritte gemacht.«
www.agape-rumaenienhilfe.de

Artikel vom 29.01.2005