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Lemgos letzter Mohikaner

Florian Kehrmann: Der Kapitän rückt von rechts ins Rampenlicht

Von Oliver Kreth
Rotenburg/Fulda (WB). Handball-Anhänger und Fernsehteams werden in Tunesien umdenken müssen. Führte sie der Weg in der Vergangenheit meist nach links zu Stefan Kretzschmar, wird während der Handball-WM die gegenüberliegende Spielfeld-Seite noch wichtiger werden.

Dort hat sich in den letzten Jahren einer festgesetzt, dem Experten ein ganz großes Vermarktungspotenzial (eine eigene Hummel-Kollektion hat er schon) bescheinigen. Ganz davon zu schweigen, dass er einer der besten Rechtsaußen ist, die sich weltweit finden lassen: Florian Kehrmann.
Im Schatten des übermächtigen Handball-Punks hat sich Kehrmann (»Ich will Stefan nicht kopieren«) vom Talent zur Spielerpersönlichkeit entwickelt. Sowohl bei seinem Verein TBV Lemgo als auch in der Nationalmannschaft, wo er nach den Absagen seiner Vereinskameraden Markus Baur und Daniel Stephan jetzt sogar das Kapitäns-Patent von »Admiral« Heiner Brand (»Flo hat Charakter und gibt immer hundert Prozent«) verliehen bekam. Kehrmann: »Das ist eine Auszeichnung für mich.«
Der 27-Jährige fühlte sich im Hintergrund bislang nicht unwohl, ist sich allerdings im Klaren darüber, dass das in Tunesien endgültig nicht so bleiben kann. »Das wird mehr in Zukunft«, orakelte er schon während der WM 2003 und meinte damit den Druck der Öffentlichkeit. »Aber ranschmeißen werde ich mich an keinen.«
Ein weichgespülter Kretzschmar, könnte man meinen. Nicht ganz so markige Sprüche, ein paar kleine Tatoos und modische, aber nicht zu auffällige Frisuren. Perfekt zu vermarkten und mit wenig Ecken und Kanten. Von wegen. Kehrmann ist ein Perfektionist, der an seiner Karriere ebenso verbissen arbeitet wie Altersgenossen an akademischen Titeln.
»Wenn man ganz nach oben möchte, muss man halt mehr tun als die anderen«, musste Kehrmann schon als Steppke erkennen. Zwar wurde er als Sechsjähriger mit der HG Büttgen Niederrheinmeister, an eine Laufbahn als Berufs-Handballer war damals allerdings noch nicht zu denken. Der kleine Florian fand Gefallen an diversen Sportarten. Ski und Snowboard fährt er bis heute leidenschaftlich gerne, Fußball und Tennis spielte er unter Wettkampfbedingungen.
Echte Erfolge wollten sich allerdings nur im Handball einstellen. 1993 stand er im Aufgebot der Jugendnationalmannschaft, 1994 wechselte er zum TuSEM Essen und kam unter den Fittichen von Trainer Bob Hanning als A-Jugendlicher locker auf fünf Trainingseinheiten im Verein. Das reichte, um sich im Team zu etablieren. Kehrmann jedoch wollte mehr.
So begab er sich in die Hände eines privaten Trainers und schwitzte unter dessen Anleitung mindestens an zwei Abenden pro Woche in der Muckibude. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Bei einer Körpergröße von 1,86 Meter kommt die Nummer 19 des DHB-Teams auf ein Kampfgewicht von 85 Kilo. Das seine Waden so dick sind wie die Oberschenkel eines normalen Menschen, spricht für Schnellkraft und Sprungkraft.
Tugenden, wie geschaffen für einen erfolgreichen Außenspieler. Die Männer an der Ecke führen in den Angriffsbemühungen der zentralen Rückraumspieler oft ein tristes Dasein und müssen lange auf ihre Chance warten. Um so wichtiger, dass die sitzen. Bei Kehrmann sitzt fast alles. Er springt höher und weiter als die meisten Abwehrspieler und behält auch dann die Übersicht, wenn er von seinen Gegenspielern unfair abgedrängt wird. »Das ist besser als auf der Kreisläuferposition«, findet Kehrmann. »Da kriegt man immer voll auf die Fresse.«
Neu wird für auch etwas anderes sein. Kehrmann ist der letzte Mohikaner aus dem TBV-Deutschland-Sixpack. Außer Baur und Stephan sind auch Volker Zerbe, Christian Schwarzer und Christian Ramota nicht mit in Tunesien. »Natürlich ist es eine andere Situation, aber in diesem neuen Team bin ich doch nicht fremd«, betont der mit 143 Länderspielen Erfahrenste und freut sich wie ein kleiner Junge auf die am Sonntag in Tunesien (bis 6. Februar) beginnende WM. Und auch als Anführer der »Rasselbande« (Durchschnittsalter knapp 25 Jahre) sind seine Ziele nicht niedrig gesteckt: »Das Halbfinale zu erreichen ist immer mein Wunsch, das ist auch diesmal nicht anders.«
www.florian-kehrmann.de

Lesen Sie dazu auch das große Portrait über Handball-Nationaltrainer Heiner Brand in unserer Beilage »Schönes Wochenende«

Artikel vom 22.01.2005