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Schritt für Schritt zurück ins Leben

Jan Pieczarek-Theine aus Löhne wurde vor eineinhalb Jahren Opfer einer Amokfahrt

Von Per Krüger
Löhne (WB). Nach dem »Warum gerade ich?« hat Jan Pieczarek-Theine nie gefragt. Eine Antwort, wieso ausgerechnet er das Opfer eines Amokfahrers wurde, kann ihm sowieso niemand geben. Der 33-Jährige hat sein Schicksal akzeptiert, ist mit unglaublichem Willen wieder auf die Beine gekommen und führt heute, eineinhalb Jahre nach einem mehrwöchigen Koma, ein Leben mit Handicaps.

Es ist der 24. Juni 2003. Jan Pieczarek-Theine unternimmt an diesem schönen Sommertag einen Ausflug mit seinem Motorrad. Auf einer Landstraße, nur ein paar hundert Meter Luftlinie von seinem Zuhause in Löhne (Kreis Herford) entfernt, nimmt seine Fahrt ein jähes Ende. Mit Absicht steuert Christoph J. (Name von der Redaktion geändert) seinen Mercedes auf den damals 32-Jährigen zu - aus Wut über eine zu kleine Portion Pommes auf seinem Gyrosteller, der ihm Minuten zuvor in einem Imbiss serviert wurde. Die Rage des Mannes aus Hiddenhausen steigert sich ins Irrationale. Blind vor Zorn stürmt der 34-Jährige aus der kleinen Gaststätte, setzt sich hinter das Lenkrad - gewillt, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Jan Pieczarek-Theine hat keine Chance.
Im späteren Prozess ordnet das Gericht die Unterbringung des schizophrenen Amokfahrers in die geschlossene Psychiatrie an. Das Opfer tritt in dieser Verhandlung als Zeuge auf und schildert dort sein Martyrium. 14 Operationen sind nötig, um die linke Körperhälfte, mit der voran Jan Pieczarek-Theine auf die Motorhaube des Mercedes geschleudert worden war, einigermaßen wiederherzustellen.
»Ich bin den Ärzten, Schwestern, Pflegern und Therapeuten im Bad Oeynhausener Krankenhaus und in den Johanniter Ordenshäusern zu riesigem Dank verpflichtet«, sagt der 33-Jährige. Sie haben nicht nur sein Leben gerettet, sondern auch das kleine Wunder bewirkt, dass er trotz kompliziertester Brüche an den Beinen und dem Becken heute wieder einige Schritte ohne Gehhilfe laufen und sogar Fahrrad fahren kann.
»Mir ist schnell klar geworden, dass ich trotz der Gewissheit, es wird niemals wieder wie zuvor sein, vorwärts denken und mir Ziele setzen muss, ohne den Bezug zur Realität zu verlieren.« Wieder gehen zu lernen, lautete ein Ziel. »Aber einen Marathon werde ich wohl auch in Zukunft nicht absolvieren können«, sagt er und lacht.
Als die Ärzte Jan Pieczarek-Theine aus dem künstlichen Koma erwecken, gelten seine ersten Worte Sandra Theine, mit der er seit acht Jahren liiert ist. »Er hat mich gefragt, ob ich ihn heirate«, erinnert sich die 29-Jährige an den 17. Juli 2003 zurück. »Es war wie in einem Liebesfilm.« Die Zahntechnikerin zögert keine Sekunde und sagt ja. An ihrem Entschluss ändert sich auch dann nichts, als Jan ihr in den folgenden qualvollen Wochen des Heilungsprozesses in Sorge, sie mit seinem Schicksal zu überfordern, anbietet, sich von ihm zu trennen. »Diese Frage hat sich für mich keine Sekunde gestellt«, sagt die junge Frau, die ihren Jan am 25. August vergangenen Jahres geheiratet hat.
Es braucht Monate, bis Jan Pieczarek-Theine die vermeintlichen Kleinigkeiten des Alltags allein bewältigen kann. Er muss lernen, sich zu waschen, sich anzuziehen, sich ein Brot zu streichen, zu telefonieren. Der Linkshänder, dessen Ellenbogengelenk seit dem Unfall steif ist, muss außerdem lernen, mit rechts zu schreiben. »Das ist mir unheimlich schwer gefallen«, gesteht er. Doch er schafft es. »Seine Handschrift ist jetzt viel schöner als vorher«, lobt seine Frau.
»Inzwischen«, sagt der 33-Jährige, der zu 80 Prozent schwerbehindert ist, »merke ich gar nicht mehr, dass ich gehandicapt bin.« Und überhaupt: »Es gibt viele Menschen, denen geht es schlechter als mir.«
»Eine Baustelle nach der anderen« abzuarbeiten, ohne die Grenzen des Machbaren in den Himmel wachsen zu lassen, hat sich Jan Pieczarek-Theine vorgenommen. Eines aber hat der junge Mann in diesem Jahr ganz fest im Visier: »Ich möchte ins Berufsleben zurückkehren.« Der Löhner war vor seinem Unfall in einem Bad Oeynhausener Autohaus beschäftigt. »Im Moment versuche ich, mit meinem Arbeitgeber eine Lösung zu finden. Es sieht ganz gut aus«, sagt er und lächelt.
An Christoph J. verschwendet Jan Pieczarek-Theine keinen Gedanken. »Ich würde ihn heute wahrscheinlich nicht einmal mehr erkennen, wenn er mir auf der Straße begegnen würde«, sagt er von dem Mann, der ihm und auch seiner Familie all dies angetan hat. »Ich empfinde keinen Hass. Ich bin einfach nur froh, dass sichergestellt ist, dass so etwas nicht noch einmal passieren kann.«

Artikel vom 29.01.2005