17.01.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Ostpreußen bebte, als
die Offensive losbrach

Nach Ostwestfalen-Lippe Vertriebene erinnern sich

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). »Der 12. Januar 1945 war absolut ruhig«, erinnert sich Rudolf Knauf aus Bielefeld an den Kriegstag, an dem die Vertreibung von 2,6 Millionen Ostpreußen begann.
Als 14-Jähriger geflüchtet: Eitel Salk aus Bielefeld.

Aus einer Einladung zur Jagd an diesem bitterkalten Wintertag wurde nichts. Die Erde bebte, als die Rote Armee die losbrach. Sie hatte sich an der Linie Tilsit, Warschau und entlang der Weichsel gesammelt.
Unvorstellbar sei der Artillerieeinsatz gewesen, berichtet Knauf, der Stellvertretender Kommandeur der Panzeraufklärungsabteilung 7 in der 7. Panzerdivision war. Auf jeden Meter Front kam im Nordabschnitt ein Geschütz.
Kanonendonner, Blitze, ein blutrot schimmern der Himmel: Auch die Familie Salk in Siemenau, südlich von Königsberg und nahe Tannenberg, hörte die Vorboten tage- und nächtelang.
»Wir müssen los«: Am 18. Januar 1945 um 22.30 Uhr gab es keine Hoffnung mehr für die Heimat, erinnert sich der Anfang der 50er Jahre in Bielefeld heimisch gewordene Eitel Salk. »Die Pferdeleine hatte mein Bruder Horst übernommen. Der Schnee reichte stellenweise bis zur Achse«. Vollmond und feindliche Leuchtballons erhellten die Schneelandschaft. In einer roten Kladde hat er alles aufgeschrieben. Immer noch fällt es schwer, an den entbehrungsreichen Weg zurückzudenken.
Weil der damals 14-Jährige noch den Tornister auf den Wagen gegeben hatte, konnten die Salks mit dem Schulatlas den Weg suchen. An der Weichselbrücke bei Dierschau war das nicht mehr nötig. Hier fanden endlose Züge der Flüchtenden zusammen.
Margarete Gause, die gleichfalls in Bielefeld landete, war am 21. Januar gestartet - genau wie Dolores Balduhn (später Gütersloh), die dem WESTFALEN-BLATT berichtete: »Schon nach wenigen Kilometern mussten wir uns in die Reichsstraße 1 Insterburg - Königsberg - Berlin einfädlen: Hier zogen die Planwagen, Jagdwagen, Landauer und Coupes in ununterbrochener Folge an uns vorüber. Nach Osten und nach Westen glich der Strom der Fahrzeuge einem großen Trauerzug.«
Margarete Gause, damals 23, war in der Tracht einer Krankenschwester gestartet. Das führte dazu, dass sie unterwegs kurzerhand als Ersatz für einen seit Weihnachten nicht mehr gesehenen Truppenarzt eingesetzt wurde. Ihr blieb damit erspart, was den Eltern bevorstand: die Flucht über die Halbinsel am Frischen Haff, an deren Ende das Knirschen und Knacken der Ostsee wartete. Auf der immer wieder von den Sowjets bombardierten Eisbrücke spielten sich schreckliche Szenen ab, vor allem als Anfang Februar die Temperaturen stiegen. Zuerst brachen die Räder ein, dann die Pferdehufe.
Die Gauses schafften den Weg über die Nehrung, hatten aber soviel Zeit verloren, dass sie den erhofften See-Transport mit der »Wilhelm Gustloff« verpassten. Sie ahnten nicht, welches Schicksal ihnen erspart blieb.
Für Eitel Salk aus Siemenau führte der Weg weiter südlich an Danzig vorbei durch den so genannten Korridor. Unterwegs traf man zwei verloren geglaubte Familien aus Siemenau wieder. Alle wurden von der Treckleitstelle in ein Nachtquartier gewiesen, wo es um Mitternacht schon wieder hieß: »Sofort weiterfahren, die Front überquert die Weichsel«.
Alles stob auseinander, auf einer Wiese »bemerkten wir, dass wir ganz allein in Richtung Westen fuhren«, schreibt Salk in seinen Erinnerungen. »Zu allem Unglück stolperte unser Pferd. Dabei ging die Wagendeichsel zu Bruch«.
Die Familie ohne Vater verzweifelte vollends. Eitel und Horst fällten schließlich bei Eiseskälte eine Birke und bekamen das Gefährt tatsächlich wieder flott. Als dann noch rasselnde Kettengeräusche auf sie zukamen, war es auch um die letzten psychischen Kräfte geschehen. »Das können nur russische Panzer sein«. Salk: »In Angst und Not war es nicht mehr möglich, klar zu denken. Wie angewurzelt standen wir da. Ich rechnete damit, dass das Leben in den nächsten Augenblicken zu Ende gehen würde.«
Gottlob war es ein deutscher Spähwagen mit Tarnlicht. Auf den Schock gab es Mutters letztes gefrorenes Vollkornbrot, mit dem Beil zerkleinert und auf der Zunge aufgetaut.
Als es am 15. Februar einmal richtig gut lief, wusste die Familie nicht, dass sie sich der (für die Sprengung) gesperrten Oderbrücke bei Stettin näherte. Das hieß: Umweg nach Norden. Eine Ponton-Brücke nach Usedom war noch offen.
Die Flucht endete vorläufig »einigermaßen wohlbehalten« am 29. März auf Fehmarn. Der Vater, an der Hand verletzt, fand nach der Entlassung in Hamburg am 5. Juli 1945 seine Familie wieder.

Artikel vom 17.01.2005