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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Kurz nach Weihnachten war in einer Tageszeitung eine merkwürdige »Anzeige« zu lesen: »Das Märchen vom Nikolaus und Christkind wurde für Kinder erfunden; das Märchen vom lieben Gott und Himmelreich für Erwachsene. Die Märchenerzähler wissen genau, dass sie lügen; die Kinder und Gläubigen leider nicht.« Unterzeichner dieser beiden Sätze ist ein gewisser Professor Ledig, C. Goethe-Verlag, Frankfurt, der nicht einmal seinen Vornamen preisgibt.
Sein Professorentitel soll jedoch vermutlich für Kompetenz und Seriosität bürgen. In Wirklichkeit jedoch sagt er, für sich genommen, darüber gar nichts aus. Man erfährt weder, aus welchem Fachbereich der Mann kommt, noch, auf welche Weise er sich qualifiziert hat. Selbst ob er einen Doktortitel oder gar mit einer Habilitation die Voraussetzung für einen Lehrstuhl an einer Universität erworben hat oder sich vielleicht nur ehrenhalber Professor nennen darf, bleibt völlig offen. Recherchen im Internet über den C. Goethe-Verlag in Frankfurt, bei dem er arbeitet, ergaben überdies, daß es sich dabei zumindest nicht um ein Unternehmen handeln kann, das bisher mit der Herausgabe bedeutender literarischer Werke oder wissenschaftlicher Bücher aufgefallen wäre.
Vor diesem obskuren Hintergrund ist es schon verwunderlich, mit welch einer Sicherheit der Mann seine Ansicht vorträgt. Märchen werden in Zusammenhang mit Lügen gebracht, also als »Lügenmärchen« abqualifiziert, mit denen Kinder und Gläubige vorsätzlich für dumm verkauft werden. Im Gegensatz zu ihrer leichtgläubigen Klientel wissen die Erzähler dies und geben es hinter vorgehaltener Hand auch schon einmal zu. Natürlich weiß unser Professor das auch; denn er gibt sich ja als der Wissende. Doch damit verschleiert er nur, daß er in Wirklichkeit lediglich seine persönliche Meinung kundtut, aber keineswegs eine wissenschaftlich fundierte These vorträgt.
Hätte er wenigstens einen blassen Schimmer vom Wesen des Märchens! In dieser literarischen Gattung geht es nämlich um etwas zeitlos - also für alle Zeiten - Gültiges, um etwas menschlich Wesentliches, das gerade nicht an eine bestimmte geschichtliche Situation gebunden ist. Der Wahrheitsgehalt liegt nicht auf der Erzählebene und in der geschilderten Handlung, sondern in einer Tiefenschicht darunter. Märchen sind wahr, obwohl nie passiert ist, was in ihnen geschildert wird. Solcher Kenntnisse jedoch ist Professor Lebig leider ledig.
Auch vom Christkind und vom Nikolaus wird Kindern ja nicht erzählt, um sie hinters Licht zu führen und zu täuschen, sondern um ihre kleine Welt mit einem Stück Poesie zu bereichern, um ihre Phantasie anzuregen und zu beflügeln, um ihnen Träume zu schenken. In einem berühmt gewordenen fingierten Brief an ein achtjähriges Mädchen namens Virginia unter der Überschrift »Gibt es einen Weihnachtsmann?« - erstmalig 1897 in der amerikanischen Tageszeitung »Sun« erschienen - heißt es dazu sehr schön: »Liebe Virginia, Deine Freunde (die sagen, es gebe keinen Weihnachtsmann) haben nicht recht. Sie glauben nur, was sie sehen. Sie glauben, daß es nichts geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt. Solcher Ameisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.«
Solchem »Ameisengeist« indessen ist Professor Lebig, wer immer das sein mag, voll und ganz verhaftet. Nur weil er Gott nicht sehen kann, bestreitet er, daß dieser sei. Ebensowenig vermag er mit dem Bild vom Himmelreich anzufangen. Daß damit ein »Friede« gemeint sein könnte, »welcher höher ist als alle Vernunft« und wie ihn die Welt nicht kennt, will nicht in seinen Kopf, weil er nur die Welt kennt und nichts darüber hinaus gelten läßt.
Professor Lebig - er steht wohl für viele andere - gibt sich klug; in Wirklichkeit ist er nur arm. Denn um die »Sun« von 1897 noch einmal zu zitieren: Es gibt »einen Schleier, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal alle Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein.«

Artikel vom 15.01.2005