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Sich nicht verständigen können, tut weh

Logopädinnen helfen bei Stottern und Sprachstörungen nach Krankheiten

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). »Wir üben jetzt das Lokomotivgeräusch«, kündigt Ulrike Horst an. Mit diesem Trick bringt die 31-jährige Diplom-Lehrlogopädin Kindern den »Sch«-Laut bei.

Egal ob jung oder alt: Menschen mit Sprech-, Sprach- oder Stimmstörungen drohen zu gesellschaftlichen Außenseitern zu werden. Kinder werden gehänselt, entwickeln möglicherweise Verhaltensstörungen, gleichzeitig steigt das Risiko für Lese-Rechtschreibschwäche. Erwachsene wiederum werden belächelt und gemieden.
»Sich nicht verständigen zu können, tut auch weh - es ist eine andere Form von Schmerz«, betont Barbara Schneider. Die 37-jährige Kollegin von Ulrike Horst hilft Menschen mit erworbener Sprachstörung. Nach einem Schlaganfall kennen die Betroffenen noch die Begriffe, aber das Wort dafür fällt ihnen nicht ein. In der Lehranstalt für Logopädie in Bielefeld müssen Horst und Schneider viel psychologisches Geschick aufbringen. »Artikulationstherapie ist Motivationstherapie«, erklärt Horst, und ihre Kollegin ergänzt: »Mut machen ist ganz wichtig.«
Bei Kindern ist es oft so, dass die Eltern moralischen Beistand brauchen. »Mein Gott, mein Kind kann nicht richtig sprechen - was nun?« Ulrike Horst, Spezialistin für die Therapie bei Kindern, lenkt den Blick der Mütter und Väter darauf, was der Nachwuchs gut kann. Sie rät ihnen zu sprachfördernden Spielen und dazu, sich nicht nur auf die Fehler zu versteifen. »Sonst bekommen die Kinder das Bewusstsein, dass sie gestört sind«, erklärt die Diplom-Lehrlogopädin aus Hannover. Wenn ein Kind nicht motiviert und aufmerksam sei, müsse die Therapie zwangsläufig scheitern.
In vier von fünf Fällen sitzen Ulrike Horst Jungen gegenüber. Dass Mädchen weniger anfällig für Sprachstörungen sind, hängt nach Meinung von Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Gehirnhälftenstrukturen zusammen. Die mittlerweile 80 privaten Lehranstalten für Logopädie haben gut zu tun. Wissenschaftliche Studien in Berlin, Bielefeld, Hamburg und Stuttgart kamen seit 2002 zu dem Ergebnis, dass bei bis zu 40 Prozent der Vorschulkinder Sprachdefizite vorliegen. Gestört sein können Aussprache und Verständlichkeit (Beispiel Lispeln). Bei Sprachstörungen wiederum wissen Menschen nicht, wie etwas heißt, während etwa Kehlkopfkrebs Stimmstörungen nach sich zieht.
Manchmal kommt das Verstummen aus heiterem Himmel, wenn ein Schlaganfall das Sprachzentrum schädigt. »Den alten Zustand komplett wiederherzustellen, ist nicht zu schaffen«, dämpft Barbara Schneider aus Löhne unrealistische Erwartungen. Ein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken, sei ein Schlaganfall aber auch nicht: »Helfen können wir auf jeden Fall. Notfalls kann man mit Gesten ausdrücken, was man will.« Schneider versucht, Sprache zu reaktivieren und das erhalten Gebliebene zu optimieren.
Während sie fast ausschließlich Einzeltherapie betreibt, behandelt Ulrike Horst auch Gruppen von bis zu fünf Kindern. Eine Sitzung dauert 45 Minuten, bis zu 30 sehen die Heilmittelrichtlinien vor. Logopädie muss von einem Arzt verordnet werden.
Wenn die Patienten zu Ulrike Horst und Barbara Schneider kommen, machen sich die beiden anhand von standardisierten Testverfahren ein umfassendes Bild: Woran hapert es bei der Aussprache, stimmen Satzlänge und Reihenfolge der Wörter, ist die Grammatik korrekt? Aber auch die Haltung des Stiftes, die Motorik beim Schreiben und die Fähigkeit, etwas Gesagtes zu hören und aufzunehmen, erlauben nützliche Rückschlüsse. Anschließend formulieren Horst und Schneider konkrete Behandlungsziele, bahnen Laute wie das »Sch« an oder erweitern systematisch den Wortschatz. Am Ende des Prozesses steht der Abschlussbericht an den verordnenden Arzt.
Horst und Schneider behandeln nicht nur, sondern bilden auch neue Logopäden aus. Geschenke bekommen sie von ihren dankbaren Patienten. Von leckeren Keksen bis zu Bildern aus Kinder- und Erwachsenenhand reicht die Palette. »Und manchmal lädt mich ein Patient zum Essen ein«, freut sich Barbara Schneider.
www.logopaedieschule-bielefeld.de

Artikel vom 29.01.2005