Hanns Schira hielt mit seiner Kamera die Szenen einer Vertreibung fest
Von Reinhard Brockmann Bielefeld (WB). Es war eine Flucht, wie Millionen andere. Nur eins hebt sie aus den endlosen Trecks der fliehenden Deutschen heraus: Die Fotos von Hanns Tschira. »Ohne die Kamera um den Hals haben wir unseren Vater nie gesehen«, erinnert sich sein Sohn Peter Christian. Hanns Tschira war passionierter Fotograf, schoss 200 000 Fotos während seines Lebens und war vor genau 60 Jahren Treckführer nach Westen. In den frühen Morgenstunden des 21. Januar 1945 verließen 350 Menschen - überwiegend Frauen und Kinder - völlig überstürzt ihren Heimatort Lübchen in Niederschlesien. Mit Kinderwagen, Pferdefuhrwerken, Fahrrädern und zu Fuß traten sie bei eisiger Kälte die Flucht vor den aus Osten anrückenden feindlichen Truppen an. Tschira übernahm die Führung und dokumentierte mit eindrücklichen Bildern diesen Treck, der sich Ende Februar, knapp fünf Wochen nach Beginn der großen Flucht, in Neuoelsnitz in Sachsen auflöste. Lucia Brauburger, Jahrgang 1965, hat mehr als 30 noch lebende Beteiligte befragt, die Bilder gesichtet und sie mit dem Text einer »Heutigen« versehen. Dabei hat sie Grund genug, sich dem Thema zu stellen. Ihre eigene Mutter war im Januar 1945 auch dabei, als zahllose Gruppen von Deutschen aus Schlesien und Ostpreußen flohen. Briefe gibt es aus dieser Zeit zuhauf, doch Bilder sind rar gesät. Die wenigsten dachten daran, zu dokumentieren, was bis heute für viele fester Bestandteil des deutschen Selbstverständnisses ist. Tschira sah keine überhöhte Aufgabe darin, er tat, was er immer tat. Er hielt fest, was er sah. Beim Start schien alles noch ein wenig wie ein großer Ausflug. Kinder und Mütter stellten sich zum Gruppenfoto und lächelten tapfer. Aber schon nach drei Kilometern hieß es, die eisgefährdete Fähre nach Köben zu nehmen. Zunächst durften die Männer nicht mit. Aber in der Nacht kam es zu Kämpfen im Dorf. Wer eben kann, nutzt das Chaos zur Flucht - der eigenen Familie hinterher. LuciaÊBrauburger, HannsÊTschira, Abschied von Lübchen, Bilder einer Flucht aus Schlesien, Econ-Verlag, 160 Seiten, 24 Euro
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