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Die Sonne geht unter
und die Party beginnt

»Havanna Lounge« brilliert im Ringlokschuppen

Von Thomas Albertsen (Text)
und Carsten Borgmeier (Foto)
Bielefeld (WB). Kahle Eichen und Kastanien statt Kokospalmen und Mangobäumen, Bier und Wein aus Plastikbechern statt Cuba Libre und Piña Colada: Bielefeld ist nicht Havanna. Wie, bitteschön, soll dann im Ringlokschuppen Stimmung wie in einem der vielen Clubs von Buena Vista herrschen?
Ein echter Kontrapunkt zu den Senioren: der jugendliche Charme Marke »Buena Vista«.

Beim Konzert von »Havanna Lounge« zeigte sich, dass es einfach nicht reicht, ebenso exzellente wie sympathische Könner ihres Fachs auf die Bühne zu stellen und musizieren zu lassen.
Vielleicht wäre die Oetkerhalle der passendere Ort gewesen, um wenigstens konzentriert auf den Musikgenuss die hohe Kunst dieser phantastischen Solisten goutieren zu können. Oder man wäre in den kleinen Saal des Ringlokschuppens gezogen und hätte mit Lichterketten, Sand und Palmen, Cocktailbars und Zigarrenständen wenigstens einen Hauch karibische Atmosphäre erzeugt.
Die Musiker taten jedenfalls ihr Bestes, um Träume von sentimentalen Love Stories bei karibischen Sonnenuntergängen, aber auch ausgelassener Partystimmung in den Clubs von Kubas Hauptstadt zu erzeugen.
Der besondere Reiz dieser akustischen, handgemachten Musik liegt in einer perfekten Mischung verschiedenster kultureller Einflüsse, die die kubanische Identität auch als Ganzes ausmachen. Träumen aber, das musste jeder im Publikum für sich!
Die Karibik assoziiert man mit Salsa und Merengue, Reggae und Calypso. »Havanna Lounge« transportierte in Bielefeld vor allem die Vielfalt der Stilrichtungen des Son, die in und um Havannas Stadtteil Buena Vista in einer Art Schmelztiegel entstanden. Als beeindruckender Vertreter der alten Generation stand Pio Leyva, der ebenso schlitzäugige wie warmherzige Sänger aus Wim Wenders' Film »Buena Vista Social CLub«, auf der Bühne. Mit seinen 88 Jahren gilt Leyva auch in Kuba bereits als Legende, weil er ein Meister der Improvisation ist und wie kaum ein anderer die Kunst beherrscht, Texte spontan zu erfinden und zum Rhythmus der Musik zu reimen. Oder er macht wie in Bielefeld einen musikalischen Ausflug in die Welt der Oper und intoniert a capella die Arie »La donna e mobile«. Doch nur wer im Publikum der spanischen Sprache mächtig war, kam in den vollen Genuss seiner Kunstfertigkeit. Die Rolle des verstorbenen Compay Segundo als Duettpartner übernahm in Bielefeld Julio Alberto Fernandez aus der zweiten Generation der Buena-Vista-Stars. Etwas schlecht kam Daniel Ramos Alayo, Trompeter der »Afro Cuban All Stars« weg, dem man mehr Raum für Soli gewünscht hätte.
So wechselte die Stimmung häufig zwischen guter Laune und tiefem Respekt -ĂŠetwa, wenn auf den Ohrwurm »Chan Chan« eine filigrane Improvisation für Kontrabass und zwei Gitarren folgte. Oder als ein jazziges Zwischenspiel von Pianist Guillermo Rubalcaba Gonzales in den Superhit »Volare« mündete. Wie begierig die Musiker alle möglichen Einflüsse aufsaugen, um sie dann auf ihre unnachahmliche Art zu verarbeiten, zeigte sich, als sie Beethovens »Freude schöner Götterfunken« in eine Ode an die überschäumende karibische Lebensfreude verwandelten.

Artikel vom 10.01.2005