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Der Mythos von der Sintflut
lebt in Südostasien neu auf

Seit Jahrtausenden fürchten die Menschen das rebellische Meer

Von Dietmar Kemper
Paderborn (WB). Im Kampf gegen Meeresungeheuer haben die Götter dem Ozean das Festland entrissen. Aber das Meer ist rebellisch, schlägt zurück und versucht das Verlorene zurückzuholen. So beschreibt die Mythologie seit Jahrtausenden den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen.
Gott straft uns mit turmhohen Wellen: daran glaubten die Menschen bis in die Neuzeit hinein. Ozeane galten als Überbleibsel der Sintflut, als Ort, den es um des Seelenheils willen zu meiden galt. Foto: dpa
Der Professor für Altes Testament Bernhard Lang.

In Asien werde der verheerende Tsunami »alte Flutmythen in Erinnerung rufen«, sagt Professor Bernhard Lang, katholischer Theologe der Universität Paderborn. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Religions- und Kulturgeschichte des Alten Testaments. Lang hat katholische Theologie, Judaistik, Altorientalistik und Ägyptologie sowie Ethnologie studiert und lehrte als Professor für antikes Judentum und Altes Testament in Tübingen und Mainz.
Angesichts von mehr als 200 000 Toten in Südostasien sprechen Journalisten, Politiker und Wissenschaftler von einer Katastrophe biblischen Ausmaßes, von der Sintflut der Neuzeit. Woher stammt der Mythos von der alles verzehrenden Flut? Seine Wurzeln hat die jahrtausendealte Überlieferung im Zweistromland Mesopotamien, dort wo heute zum Beispiel der Irak liegt.
»In biblischer Zeit sind Flutkatastrophen nicht als konkrete Erfahrung bekannt«, sagte Lang gestern dieser Zeitung. Der Mythos aus Mesopotamien sei aber auch bei den Israeliten verbreitet gewesen und habe die Einstellung zum Wasser geprägt. Einen Ursprung der Geschichten über die Sintflut vermutet der Religionswissenschaftler im Durchbruch des Mittelmeeres durch die Landenge zwischen Griechenland und Kleinasien. Bei diesem gewaltigen Naturschauspiel bildete sich im 8. oder 9. vorchristlichen Jahrtausend das Schwarze Meer. Nach der Überlieferung löschte die Sintflut alles Leben aus, nur der von Gott erwählte Noah überlebte.
Ozeane galten unseren Vorfahren lange Zeit als Überbleibsel der Flut. »Die vorgriechischen Kulturen des Zweistromlandes stellten sich die Erde als Scheibe vor und gingen davon aus, dass das Festland vom Wasser des Todes umschlossen ist«, erläutert Bernhard Lang. Der schlechte Ruf des Wassers in der Bibel habe neben der Sintflut-Mythologie noch andere Ursachen, weiß der Leiter des Instituts für katholische Theologie der Universität Paderborn. Die Israeliten seien ein Landvolk gewesen, das die Schifffahrt nicht kannte.
Das Wasser selbst sei in gutes und schlechtes aufgeteilt worden: in Süßwasserseen wie in Genezareth und in lebensfeindliche Salzwasserflächen wie das Tote Meer. Immer wieder werde in der Bibel der Kampf gegen das bedrohliche Element geschildert, sagte Lang (57). So beim Exodus aus Ägypten, als Moses auf Gottes Geheiß sein Volk trockenen Fußes durch das Meer führt, oder als Jesus über das Wasser geht und damit Macht über die Natur demonstriert.
Bevor Naturwissenschaftler im 17. und 18. Jahrhundert das Meer zu entzaubern begannen, galt es als gefährlich und unheimlich. Der Beruf des Seemanns genoss kein hohes Ansehen, an Land gespülte Leichen wurden nicht auf dem Dorffriedhof begraben. Überschwemmungen deuteten Theologen als Strafe Gottes für die Sündhaftigkeit der Menschen, die sich in Ungehorsam, Stolz oder Völlerei äußerte. »Die Menschen wünschten sich einen guten Tod, auf den sie sich vorbereiten können, um mit Gott und der Welt abzuschließen«, erläutert Bernhard Lang. Bei einem plötzlichen Tod durch die Flut hätten nach altem Glauben die Qualen der Hölle gedroht.
Die Frage, wie Gott zerstörerische Fluten zulassen könne, werde erst seit der Neuzeit gestellt, und das in Europa. In den traditionellen Kulturen Asiens dienten Flutkatastrophen wie die derzeitige nicht dazu, Gottes Güte anzuzweifeln, weiß Lang: »Dort schreiben die Menschen die Schuld sich selbst zu. Sie vermuten schädliche Einflüsse fremder Kulturen als Ursache, und es regt sich der Aufruf, zu den bodenständigen Traditionen zurückzukehren.« Trotz unermesslichen Leids in Indonesien und Sri Lanka würden die Götter nicht vom Sockel gestoßen.

Artikel vom 07.01.2005