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Die Sache mit der Toleranz

Burkhard Budde ist evangelischer Pfarrer.

Abgründe tun sich manchmal auf. Eine Lehrerin soll den Namen »Jesus« aus einem Lied gestrichen haben. Wie die örtliche Zeitung weiter berichtet, ist dies aus »Rücksicht auf einige muslimische Schüler« geschehen. Stattdessen sollten alle Chorteilnehmer »Virtu« (»Tugend«) singen.
Manche schütteln den Kopf und gehen zur Tagesordnung über. Andere reiben sich die Augen, weil sie bislang geschlafen haben. Welches Verständnis von Toleranz hat diese Lehrerin? Zur gleichgültigen Toleranz gehört es, sich dem Strom der Zeit anzupassen und sich treiben zu lassen. Nur nicht den Kopf zu weit aus dem Wasser halten. Nur nicht auffallen. Und nur keine Unruhe.
Zur missbrauchten Toleranz zählen Beleidigung und Unterstellungen, Pöbeleien und lautstarke Buhrufe von Menschen, die auf intolerante Weise Toleranz fordern, aber eigene Macht meinen. Dass sie selbst eines Tages das Wasser trinken müssen, das sie vergiftet haben, kommt vielen nicht in den Sinn.
Wer jedoch Brücken über einen Fluss schlagen will, darf nicht ins Schwimmen geraten.
Moment mal!Verschiedene Ufer des Denkens, Fühlens und Handelns können nur miteinander in Kontakt treten, wenn es die Brücke der verstehenden, ertragenden und bekennenden Toleranz gibt: den anderen verstehen lernen, ohne sich anzubiedern. Den anderen respektieren, ohne sich selbst aufzugeben. Für seine eigenen Überzeugungen und Gewissheiten mutig eintreten, ohne den anderen zu etwas zu zwingen oder ihn zu bevormunden.
Wer gegen den Strom schwimmt, kann zur Quelle des Evangeliums von Jesus Christus gelangen.
Hier befindet sich für Christen die Kraft, in einer offenen Gesellschaft Verantwortung für die Achtung der Würde aller Menschen wahrzunehmen. Und Toleranz auch gegenüber christlichen Liedern zu fordern.
BURKHARD BUDDE

Artikel vom 06.01.2005