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Die Zeit der grauen
Mäuse geht zu Ende

Existenzgründer und Welteroberer sichern Arbeit

Von Bernhard Hertlein
Bielefeld (WB). Bei schlechtem Wetter und natürlich erst recht bei sich nähernder Gefahr verkriecht sich die Maus gern in ihr Haus. Niemand wird dies dem kleinen Tier verargen. Entscheidend für seine Zukunft ist nur, dass die Maus sich irgendwann wieder aus ihrem Versteck heraus traut. Andernfalls wird der Käse, den sie dort in besseren Zeiten gehortet hat, bald aufgebraucht sein. Die Maus wird verhungern.

Wohl jeder gerät irgendwann in seinem Leben in die Lage der Maus - auch ein Wirtschaftsunternehmen beziehungsweise sein Management. Das schlechte Wetter steht in diesem Fall vielleicht bildhaft für die abschwingende Konjunktur in Deutschland. Oder für den Teil der Kundschaft, dem die Ware zu teuer geworden ist und der deshalb die Preise neu verhandeln möchte.
Schlechtes Wetter kann einen Ostwestfalen vielleicht erschüttern, aber ihn bestimmt nicht aus der Bahn werfen. Anders verhält es sich mit den Katzen -Êvor allem wenn es sich sinnbildlich um einen so großen »Tiger« handelt wie die Globalisierung.
Der Marktzugang für Konkurrenten, die weitab zu Preisen produzieren, die nur einen Bruchteil der deutschen Lohn- und Standortkosten darstellen, scheint ein schier unüberwindliches Hindernis. Da ist die Neigung groß, sich in sein Haus zurückzuziehen und nur noch von den Rücklagen zu leben.
Hätte sich die Wirtschaft so verhalten, wäre die Situation noch viel ernster als sie ohnehin ist. 80 000 Arbeitsplätze hat die Industrie in Ostwestfalen in den vergangenen zehn Jahren eingebüßt. Gleichzeitig aber haben sich 98 000 Menschen in der Region aufgemacht und nach Angaben der Industrie- und Handelskammer (IHK) ein neues Unternehmen gegründet. Nicht alle Existenzgründer haben überlebt. Das schlechte Klima einerseits und räuberische Katzen andererseits haben manche Neuexistenz wieder vernichtet. Doch ohne Mut und Gründungsgeist wäre die Situation in OWL noch viel schlimmer.
Besonderer Mut und Ausdauer gehören dazu, um das Haus zu verlassen und anderswo sein Glück zu versuchen. Ostwestfalen-Lippe ist keine typische Exportregion. Doch in der Not hilft Zaudern nicht wirklich.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Exportquote in Ostwestfalen von 18,7 auf mehr als 30 Prozent erhöht. Bald wird jeder dritte Euro, den Unternehmen aus der Region erwirtschaften, im Ausland erzielt. Das ist zwar noch immer weniger als im Durchschnitt der anderen Regionen Deutschlands. Doch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis: Die Wirtschaft in Ostwestfalen hat sich auf den Weg gemacht. Und sie hat damit Erfolg. Sie sichert Arbeitsplätze zu Hause.
Damit aus Mut nicht der Übermut wird, der noch keiner Maus jemals bekommen wäre, haben mittelständische Unternehmen aus Ostwestfalen Wege gefunden, gemeinsam neue Märkte zu erobern. Ein Büro in Schanghai, Moskau oder Dubai, dessen Kosten einen einzelnen Möbelhersteller überfordert hätten, wird plötzlich finanzierbar, wenn der dortige Agent neben den Küchen des einen Produzenten auch noch Sofas, Betten, Kleiderschränke und Kinderzimmer-Möbel mehrerer, nicht konkurrierender Unternehmen aus der eigenen Nachbarschaft vermarktet.
Katz' und Maus sind nur Rollenbilder - keine wirklichen Daseinsbeschreibungen. Wer sich heute mit seinem Produkt oder auf einem bestimmten Markt in der Rolle des Jägers gefällt, findet sich schon kurze Zeit später oder in einer anderen Region möglicherweise in der ungewohnten Rolle des Gejagten wieder. Dann hilft kein Hadern und Zaudern. Dann helfen auch solide Rücklagen nur kurzfristig. Wirklich hilft dann nur Mut ohne Übermut. Dann helfen in der Tat Augenmaß und Übersicht. Dann muss man unternehmen, nicht überstürzen oder unterlassen.

Artikel vom 29.01.2005