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Livia war seine Großspurigkeiten gewöhnt und verkniff sich aus ihrer Verbitterung heraus, solche Superlative ernst zu nehmen. Sie war nahe daran, herzhaft zu lachen. Dabei fühlte sie sich wie im Schatten eines Vulkans, wo es eine Frage des Überlebens ist, jedes Beben und jedes Rumoren wahrzunehmen. Doch trotz der unerfreulichen Situation, dass sie ständig auf der Hut sein musste, nicht auf weitere Lügen Angelos hereinzufallen, war Livias Neugierde geweckt.
»Was war denn das Besondere an diesem Bild?«, fragte sie kurz angebunden und wippte ungeduldig mit dem übergeschlagenen Bein.
»Mir gefiel einfach die liegende Frauengestalt, die sich unter einem dicken Grauschleier von Dreck und Firnis abzeichnete.«
»Du bist ein krankhafter Erotomane É«
»Du beleidigst mich! Da gibt es ganz andere É Höre zu: ich habe eine hervorragende Malerei erworben. Die schöne Frau ist nicht einmal vollständig entkleidet, wenn du meinst, dass es allein das ist, was mich interessiert. Ihr Schoß und die eine Brust sind bedeckt, aber man empfindet ihre Schönheit durch die vollendete Darstellung der sichtbaren Körperpartien.« Angelo hatte bei dieser Schilderung etwas von seiner früheren Sicherheit wiedergefunden. Dass Livia ihn zu Unrecht angriff, gab ihm Gelegenheit zu begründeter Selbstverteidigung.
»Als ich das Bild kaufte, dachte ich nicht über den Maler nach. Ganz sicher nicht. Gemälde berühmter Maler stehen nicht irgendwo auf einer Staffelei und laden zum Mitnehmen ein. Ein alter Meister wird nicht einfach verkauft. Man kann auch nicht einfach in die National Gallery nach London, den Prado nach Madrid, die Uffizien oder den Palazzo Pitti gehen und sagen, ich will das Bild da kaufen.
Der Preis für ein wirklich bedeutendes Werk ist atemberaubend hoch. Wenn einmal in fünfzig Jahren solch ein Bild auf den Markt kommt. Und wenn es der Fall ist, dann ist es oft ein zweifelhaftes oder beschädigtes Stück. Kein Mensch kann daran denken, einen echten Velázquez zu finden.«
»Ein Velázquez? Du willst einen Velázquez entdeckt haben? Du machst Scherze É«
»Keineswegs! Wart ab. Ich sage dir, warum ich Recht habe. Ich konnte so etwas nicht erwarten und habe zuerst nur die hervorragende Qualität gesehen, sonst nichts. Und natürlich musste ich wissen, wie gut erhalten die Malschicht unter der trüben Oberfläche war und ob man noch mehr herausholen konnte. Und deswegen habe ich das Bild zu Giuseppe gebracht, meinem Restaurator, der dies am besten beurteilen kann. Er hat durch Nachspannen des Keilrahmens die Leinwand gestrafft und die verbeulte Oberfläche etwas geglättet. Dann hat er auf die blinde Malschicht einen dünnen Firnis aufgelegt, wodurch die Farben teilweise bereits kräftig herauskamen: tiefe graublaue und petrolgrüne Töne neben Dunkelrot, Braun und Schwarz. Die Hautfarbe hob sich in deutlichem Kontrast ab. Man konnte etwas von der prachtvollen Palette ahnen, die früher zu sehen war und die bei einer gründlichen Freilegung vielleicht wieder herauszuholen ist.«
»Was beweist das?«, fragte ihn Livia ebenso ungeduldig wie ungläubig.
»Offensichtlich eine Menge! Ein bedeutender Anwalt aus Bologna, der in Abständen irgendwelche dunklen Bilder Giuseppe zur Reinigung bringt, sah in diesem Zustand meine wunderschöne Dame aus Salerno. Dieser Mann wollte das Bild sofort kaufen und bedrängte den Restaurator, ihm den Besitzer zu nennen.«
»Und? Was ist dabei herausgekommen?«, fragte Livia betont desinteressiert.
»Giuseppe rief mich natürlich an. Und ich wollte genau wissen, was dieser Mann für Vermutungen hatte. Deshalb habe ich ihn zurückgerufen.«
»Und hast du etwas von ihm erfahren?«
»Er hat mir zehn Millionen Lire geboten.«
»Und hast du das akzeptiert?«
»Ich bin doch nicht dumm! Mein Instinkt sagte mir, dass dieser Mann dasselbe Qualitätsgefühl haben musste wie ich. Aber vielleicht hatte er bereits einen Maler im Kopf, dessen Bilder teuer waren. Er wollte mich unbedingt treffen, worauf ich auch eingegangen bin.«
»Hat er dir etwas verraten?«
»Ich fragte ihn, warum er so viel für das Bild bezahlen wolle. Er erzählte von der Macht des Eros, die er zu spüren bekam, als sein Blick auf diese außerordentlich schöne Frau fiel. Es wäre eine unerhört glaubwürdige Vorstellung von einer Person, die ihn mit ihrer Sinnlichkeit gefangen genommen habe. Sie erinnere ihn an eine Jugendliebe. Er müsse daher dieses Gemälde um jeden Preis besitzen. Ich habe ihm das nicht abgenommen, habe ihm aber nicht entlocken können, an was für eine Zuschreibung er dachte. Immerhin meinte er, dass der Maler die Bologneser und römischen Meister gekannt haben müsste und nicht schlechter sei als Guido Reni oder Guercino. Obwohl keine Signatur vorhanden und das Bild nicht unmittelbar zuschreibbar sei, würde er mir genauso viel wie für einen Reni bieten. Als er das sagte, war mir klar, dass mein Bild viel mehr wert sein musste als sein Angebot.«
»Eine wunderschöne Story. Und wozu hast du dich entschlossen?«
»Ich habe Museumskataloge und Publikationen über die italienischen Maler des 17. Jahrhunderts gewälzt. Die Abbildungen sahen entfernt ähnlich aus, aber keine kam überzeugend in die Nähe meiner Erwerbung. Ich bin zu Kollegen gegangen mit guten Bildarchiven und habe durchgesehen, was in den letzten Jahren aus dieser Zeit im Kunsthandel angeboten war. Ich musste wissen, ob mein Bild schon einmal aufgetaucht war oder ob es irgendwo Darstellungen gab, die Geschwister meiner Schönen hätten sein können.«
»Deiner Schönen É«, äffte Livia ihren Mann nach. »Du betonst das so, als wäre sie ein lebendiges Wesen.«
»Das Modell zu dem Bild muss es ja gegeben haben. Wie man sieht, gibt es vollendete, göttliche Schönheiten, die menschliche Kriterien außer Kraft setzen können«, erklärte Angelo hochtrabend.
»Das hast du mir bereits vorgeführt«, meinte Livia bissig und bei den letzten Worten den Tränen nahe.
Angelo fuhr unbeirrt fort: »Manche geben tatsächlich ein Vermögen aus, um den Anblick körperlicher Makellosigkeit an ihren eigenen Wänden zu haben.«
»Du hast gerade gesagt, dass du dieser Art von Beteuerungen misstraust. Ich will den Ausgang der Sache wissen. Das Ende, bitte!«
»Ja, Giuseppe hat eine Beschriftung gefunden. Eindeutig! Und alt! Sehr wahrscheinlich ist es eine originale Signatur, aber das ist nicht der einzige Beweis«, orakelte Angelo.
»Du weißt, dass Signaturen É«
»Die Stelle würde niemand wählen, der andere täuschen will. Es stand schlicht auf der Rückseite der Leinwand eine ausführliche Signatur, die Diego de Silva y Velázquez lautete, ergänzt durch mehrere abgekürzte Titel oder Ähnliches. Es war die Rückseite der Originalleinwand, die niemand sehen konnte, da sie vor langer Zeit auf einer festen, neueren Trägerleinwand aufgeklebt worden war. Giuseppe war unglücklich über die verwölbte und starre Bildfläche, die er nicht mehr glätten konnte. Außerdem hatte er entdeckt, dass die originale Malerei über die Bildkanten hinausging und bis zum Rand der Umschlagkanten zu verfolgen war. Wir waren uns einig, dass man die gesamte erhaltene Fläche wieder sichtbar machen müsste. Dazu musste er die dicke Trägerleinwand von hinten ablösen É«
»Und dann kam einfach so eine Beschriftung heraus?«, fragte Livia ungläubig.
»Ja. Er rief mich aufgeregt an und hat in meiner Gegenwart die Partie weiter abgekratzt und von dunklen Wachsresten befreit. Er hatte bei sich ein älteres Velázquezbuch gefunden und die Abbildung des einzigen Aktbilds, das von Velázquez erhalten ist, für mich bereits aufgeschlagen. Auf einen spanischen Maler wäre ich von allein nicht gekommen. Bis dahin wusste ich nichts von Velázquez und hatte auch noch nie in meinem Leben bewusst ein Original von Velázquez gesehen. Und es stand in seinem Buch, dass es sich um das einzige Aktporträt handelte, das je im Spanien des 17. Jahrhunderts gemalt wurde. Aber als ich diese Abbildung der Liegenden Venus sah, traf es mich wie der Blitz. Es bestand kein Zweifel. Es war ein und dieselbe Frau! Nur mit dem Unterschied: Was in der National Gallery in London hing, war die Rückenansicht der Schönen, und die Frontalansicht der gleichen Dame stand vor uns auf der Staffelei.«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht!«, entgegnete Livia.
»Glauben war ganz unnötig. Die Tatsachen sprachen für sich. Die abgebildete Frau war sowohl auf dem einen als auch auf dem anderen Bild dasselbe Modell. Wir haben natürlich die lebende Frau nie gesehen, doch ihr Haar, ihre Figur, ihre Jugend und die Pose ließen keinen Zweifel aufkommen. Und noch ein gewichtiges Argument tauchte auf, das die beiden Bilder eng verbindet: Es ist die absolut gleiche Körpergröße. Die Rückenansicht in London ist einen Meter und fünfundsiebzig Zentimeter breit. Meine Frontalansicht ist unrestauriert nur sieben Zentimeter schmaler, aber mit den von Giuseppe herausgeholten Umschlagkanten kommen fast zwölf Zentimeter dazu. Giuseppe hat mich jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass das Londoner Bild an den äußersten Punkten von Ellenbogen und ausgestrecktem Zeh wie angeschnitten aussieht. Also kamen dort ursprünglich ein paar Zentimeter dazu, sodass das Maß übereinstimmt. Wenn also die herrlich glatte, alabasterschimmernde Kehrseite der Londoner Venus die Beschauer geradezu süchtig macht nach dem Anblick der Vorderseite, dann können wir diese Sucht bald befriedigen.« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 26.01.2005