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Gleich acht Stühle waren um ihn herum gruppiert und verstellten die Sicht. Eine wahrer Wall aus Mahagoni. Regale, Anrichte und ein massiver Schrank komplettierten den Raum. Lediglich die Sitznische, bestückt mit einer französischen Art-déco-Polstergarnitur, verlieh dem Raum etwas Behaglichkeit. Er machte nicht den Eindruck, als hätte sich noch vor kurzem jemand hier aufgehalten.
Sie ging wieder in die Diele und stieß die nächste Tür auf. Ein frischer Luftzug durchwehte die Wohnung. Das Fenster war gekippt. Ein Blick genügte. Schreibtisch, Zeitschriften, Aktenordner und der überquellende Papierkorb wiesen den Raum als Arbeitszimmer aus.
Noch immer hatte sie keinen Beweis, dass es sich um Angelos Wohnung handelte. Livia wusste, wie es am schnellsten gehen würde. Sie ging zur nächsten Tür und betrat den Raum, der ihr Gewissheit geben konnte. Es war das Schlafzimmer. Das Gewitter tobte währenddessen über der Stadt. Blitze tauchten die Wände abwechselnd in grelles Licht. Wie unter einem plötzlichen Angriff wich sie instinktiv einen Schritt zurück. Es war allerdings nicht der Blitz, vor dem sie zurückwich. Es war das gleiche süß duftende Fluidum, mit dem in Venedig alles begonnen hatte.
»Mistkerl!«, zischte sie auch diesmal. Jedoch nicht ärgerlich, sondern aus tiefster Verachtung. Entschlossen trat sie ein.
An der Wand zierte Der rote Akt von Amadeo Modigliani die ungemachten Betten. Obwohl Angelo damals plausibel über den unerreichbaren Schwung der Konturlinien sowie über die pulsierende Sinnlichkeit des Aktes dozierte hatte, hatte sie es abgelehnt, dem Akt in ihrem Schlafzimmer Asyl zu gewähren. »Ich bin der schönste Akt in unserem Schlafgemach, Liebster É«, hatte sie damals geschnurrt, was Angelo sofort verstand.
»Eine Unverschämtheit!«, fauchte sie und sah sich weiter um. Eine halb offen stehende Tür gab den Blick ins Badezimmer frei. Livia steuerte rechts daneben auf eine geteilte Schranktür zu. Die Türen waren von oben bis unten verspiegelt. Zielsicher schob sie die eine Tür zur Seite. Was sie in Augenschein nahm, stellte sie zufrieden. »Der graue É die zwei blauen É die Lederjacke, das schwarze É das helle É«, zählte sie die Anzüge und Sakkos durch. Kein Zweifel, es war Angelos Garderobe. Neugierig schob sie auch die zweite Tür beiseite. Was sie sah, enttäuschte sie. Außer einem Morgenrock und zwei modisch geschnittenen seidenen Sommerkleidern gab es nichts zu entdecken.
»Die Lady residiert wohl anderswo É«, kommentierte sie den Fund und zog die Türen wieder zu. »Das Telefon! Wo steht es?« Livia ging wieder hinaus und inspizierte noch einmal das Wohn- und Arbeitszimmer, danach die Toilette und am Ende die Küche.
»Seltsam, kein Telefon?«, sprach sie zu sich selbst. Daraufhin bediente sie sich aus dem Kühlschrank und erfrischte sich mit kühlem Mineralwasser.
Der Anblick des ungespülten Geschirrs und der noch gut gefüllten Kaffeekanne sagte ihr, dass am Morgen noch gefrühstückt worden war. Sie war sich nun sicher, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis ihr Mann aufkreuzen würde. Sie kippte das Fenster, um die vom Regen gereinigte und gekühlte Luft zu atmen, streifte die Schuhe ab, setzte sich auf die Couch und legte die Füße hoch, um ein wenig zu entspannen.
»Wie lange mag er diese Räume schon bewohnen? Warum hat er mir alles verheimlicht? Warum war sein ganzes Leben eine Lüge?«, seufzte sie.
Sie erinnerte sich an die ersten Wochen ihrer Ehe in Venedig, als sogar das Spülen des Geschirrs, das Aufräumen und die alltäglichen Arbeiten, die anfielen, ihr ein Gefühl von Verbundenheit und Geborgenheit gegeben hatten. In Wirklichkeit war damals schon ihr Vertrauen in Angelos Treue und Aufrichtigkeit eine Illusion gewesen. Ein weiteres Zusammenleben mit Angelo war für sie undenkbar. Seine Lügen, seine Untreue, sie würden künftig unerbittlich vor ihren Augen stehen. Gerade in ihrer intimsten Sphäre, in der sie sorglos auf alle Schutzmechanismen verzichtet hatte, waren die Risse nicht mehr zu kitten. Das, was geschehen war, ließ sich nicht einfach auslöschen É
Eine gewisse Unabhängigkeit in ihrer Ehe hatte Angelo von Anfang an für sich in Anspruch genommen. Nie hatte er ihr gegenüber mehr Spielraum innerhalb ihrer Zweisamkeit gefordert, nie über zu wenig Bewegungsfreiheit geklagt. Sie war auch nie misstrauisch gewesen, dass er diesen Freiraum ausnutzen würde. Umso bitterer traf sie die Erkenntnis, dass er ihre Beziehung als Experimentierfeld für seine Eskapaden benutzt hatte. Er war, wie es schien, allen Reibungen und Konflikten aus dem Weg gegangen und hatte nur seine eigene Befriedigung gesucht. Der Handel mit Bildern, vor allem der mit Kopien, machte offensichtlich scharf.
Vielleicht ließen sich die offenen Fragen bald klären. Sie war ja lediglich gezwungen, auf Angelo zu warten É

Livia erwachte. Adrenalin peitschte ihren Blutdruck hoch. Sie spürte ein Kribbeln in allen Gliedmaßen. Ihr Atem ging kurz. Das Scheppern eines Schlüsselbundes zusammen mit dem fahlen Licht, das durch die Glastür schimmerte, überzeugten sie davon, das jemand die Wohnung betreten hatte. Ein Schatten bewegte sich vor dem Glas und knipste das Licht in der Küche an.
Livia zog die Knie fast bis zum Kinn hoch und lauschte angestrengt. Sie hörte das Öffnen und Schließen von Schubladen, die Person räusperte sich mit tiefer Stimme und ließ Gläser klirren É Ein Ventilator setzte mit einem Brummen ein. Die Minuten gerieten zur Ewigkeit. Livia starrte auf die Tür. Wieder nahm sie schemenhaft eine Gestalt wahr. Der Schatten auf dem Glas wuchs schnell.
In dem Augenblick, als eine schwarze Schattenhand nach der Klinke der Glastür griff, sprang Livia von ihrem Sofasitz. Die Tür schwang auf, die gleiche Hand ging zum Lichtschalter.
Vor Schreck gelähmt, mit Augen, in denen jegliche Erinnerung an Vergangenes erloschen zu sein schien, stand Angelo vor ihr. Ihre Augen dagegen flammten, als sie den seinigen begegneten.
Angelo fasste sich an den Kopf. Seine Selbstbeherrschung schien ihm in jenem Moment gründlich abhanden gekommen zu sein. Er, der stets den Eindruck erweckte, als würde er nur große Rollen des Theaters zugewiesen bekommen, zeigte sich der Situation nicht gewachsen. Er tat keinen einzigen Schritt, blieb wie angewurzelt stehen. Endlich rang er sich zu den Worten durch: »Sehe ich ein Gespenst, oder bist du es wirklich?«
»Ich hätte gedacht, dass im 20. Jahrhundert wenigstens die Männer über Aberglauben erhaben seien.«
»Santo Dio!«, hauchte er plötzlich mit fremder Stimme, während immer noch kein Wandel in seinem Benehmen festzustellen war.
Livia tat den ersten Schritt, ging auf ihn zu und streckte ihm ihre Hand entgegen. Seine Hand war kalt. Der stumme Ausdruck in seinem Gesicht und in seinen Bewegungen hatte nichts mehr gemeinsam mit den unausgesprochenen Gefühlen, die sie einstmals eng aneinander gebunden hatten.
»Was machst du hier?«, fragte er.
»Einen Hausbesuch, wie du siehst É«
»Wie bist du hereingekommen?«
»Hilfreiche Menschen waren am Werk É«
»So?« Er sah sie misstrauisch an. Dann straffte er sich. »Ob du es glaubst oder nicht, ich bin froh, dass du da bist.« Daraufhin schritt er zögernd auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. Gereizt schüttelte Livia sie ab. Wieder versuchte Angelo, sie an sich zu ziehen. Wütend riss sie sich los und versetzte sie ihm eine schallende Backpfeife.
»Du Idiot! Warum musstest du mich so demütigen? Warum musstest du unsere Ehe zerstören?«
Angelo rieb sich die Wange. »Ich É ich É vergesse nicht, dass ich mich in Gesellschaft einer Dame befinde. Sei bitte so gut, und nimm dich zusammen.«
»Was soll ich?«, rief sie aufgebracht. »Ich werde in meinem Leben nie vergessen können, wie gemein du dich mir gegenüber verhalten hast!«
»Bitte, nicht so laut«, versuchte Angelo sie zu beschwichtigen. »Das Haus hat Ohren.«
»Rücksicht? Stille? Kannst du haben, vorausgesetzt, ich werde hier nicht ein zweites Mal betrogen. Außerdem erwarte ich, dass du wenigstens jetzt eine Spur von Verantwortungsbewusstsein zeigst.«
Sie starrten einander an. Angelo schüttelte den Kopf. »Wer hat davon geredet, dass ich dich betrügen will?«, erwiderte er mit halb unterdrückter Stimme und bot Livia mit einer Handbewegung einen Sessel an.
»Das ist wohl der Gipfel der Unverschämtheit. Versuche mir nun nicht zu erzählen, dass deine geheime Wohnung hier und dein böswilliges, spurloses Verschwinden aus unserer Ehe etwas völlig Normales seien, das ich zu akzeptieren hätte.«
Angelo wand sich. »Versteh doch. Es gab ernste Probleme É ich wollte dich da nicht hineinziehen É«
»Es gab É? Habe ich richtig gehört? Es gab É? Seit wann sind denn deine Probleme gelöst und vorbei, die du mir immer verheimlichst hast und von denen ich nichts wissen durfte? Warum hast du dich nicht sofort gemeldet, um mir die glückliche Fügung mitzuteilen? Hast du dir je darüber Gedanken gemacht, wie viele Tage und Nächte ich verzweifelt war, wie oft ich um dich gebangt und auf ein Lebenszeichen von dir gehofft habe?«
»Glaub mir, in Kürze hätte ich es getan.«
Die unglückliche Wortwahl fachte Livias schwelende Zornesglut zur hellen Flamme an. »In Kürze É«, äffte sie ihn nach. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.01.2005