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Ihre ganze Zukunft hing nicht zuletzt davon ab, wie sie sich mit Angelo einigen konnte. Die Eigentumswohnung in Venedig war noch lange nicht bezahlt. Sie allein trug momentan die gesamten Kosten, und ohne Angelo kam sie aus den Kreditverträgen nicht heraus. Trotzdem schwor sie sich so zu handeln, als ob sie die Unabhängigkeit, die sie anstrebte, bereits erreicht hätte. Die sechzigtausend Dollar konnten zwar den Teil eines Fundaments bilden, aber noch reichte die Tragfähigkeit nicht aus. Um das zu ändern, war eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht mit Angelo notwendig, um ihn an seine Verantwortung zu erinnern, aus der er sich nicht so einfach davonstehlen konnte É
Nach ihrem letzten Gedanken musste sie sich für einen Moment auf die Zehenspitzen stellen, um über die zahllosen Köpfe hinweg die Personen im Auge zu behalten, die an Jacopos Bilderstand herantraten.
»O nein!«, kam es über ihre Lippen. Sie streckte sich und hüpfte mehrmals hoch, um sich Gewissheit zu verschaffen. Die Erscheinung war auch auf die Distanz hin unverkennbar: die breiten Schultern und die wie immer energiegeladenen Bewegungen.
»Er ist es!«, rief sie laut aus, sodass einige fremde Menschen zu ihr herblickten. Hochrot vor Anspannung wühlte sich Livia durch die Menge in Richtung auf Sannazarros Bilderstand. Doch ein schnelles Vorankommen war unmöglich, da die dicht gedrängte Menschenschar sich träge dahinwälzte.
»Ich schnapp ihn mir! Er entkommt mir nicht!«, keuchte sie. Plötzlich tat sich für einen Moment eine Gasse auf. Weniger als fünfzig Meter trennten sie noch von dem Mann, der Angelo sein musste. Er stand jetzt mit dem Rücken zu ihr. Sie sah noch, wie Jacopo die hochaufragende Gestalt hastig am Ärmel wegzog. Die Gasse schloss sich wieder mit Menschenleibern.
Rücksichtslos kämpfte Livia nun gegen das Gedränge an, als wäre dort vorn eine Ziellinie, deren Überquerung für sie den Gewinn einer olympischen Goldmedaille bedeuten würde. Für einen Sekundenbruchteil erblickte sie Sannazarro, der Angelo hinter die rückwärtig gespannte Plane zog und gleich wieder von Dazwischentretenden verdeckt war.
Livia spannte alle ihre Kräfte, stieß zwei, drei Menschen zur Seite und schrie außer sich: »Angelo! Warte! Bleib stehen, ich muss mit dir reden, verflucht noch mal!«
Durch ihr Rufen öffnete sich wie durch ein Wunder die ersehnte Passage. Sie stürzte nach vorn, riss sich die Sonnenbrille von der Nase. Ihre Beine flogen durch die Lücke. Sie geriet ins Stolpern, spürte, wie sich ihre Armmuskeln bis zum Äußersten dehnten, wie ihr rechtes Schultergelenk unter dem Aufprall völlig taub wurde. Helfende Hände streckten sich ihr entgegen. Kurz darauf stand sie wieder. Ihr Unbewusstes registrierte noch die zerbrochene Sonnenbrille. Sie fühlte keinen Schmerz. Nach wenigen Schritten war sie am Stand vorbei, entschlossen, hinter die Plane zu gelangen. Als sie diese im Sprung zur Seite schob, prallte sie auf Jacopo Sannazarro, der mit weit aufgerissenen Augen wie ein Pfeiler vor ihr stand. Sie stolperten zusammen rückwärts. Noch im Fallen umfasste Jacopo Livia. Diesmal fiel sie weich. Jacopo hatte einen ordentlichen Bauch.
Als der Schrecken verflogen war, hatte Jacopo als Erster seine Fassung wiedergefunden. »Halten Sie sich ruhig fest, Signora, und lassen Sie nicht mehr los!«
Livia krabbelte von ihm herunter. Während sie versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden, war ihr der Schrecken noch nicht aus dem Gesicht gewichen.
»Verzeihen Sie É Es tut mir É leid É!« Livia richtete ihr Kleid und schlüpfte wieder in den Schuh, den sie beim Sturz verloren hatte.
Als sie sich aufrichtete, sah sie in eine Gasse, die von dem Markt wegführte. Sie blickte wahrhaftig hinter die Kulissen. Das was sich vor ihr auftat, war zugestellt durch Transportautos, Kisten, Kartonagen, Bänken, Stühle und Sonnenschirme jeglicher Größe. Dazwischen standen verstreut Grillgeräte und schleppten Menschen Proviant- und Getränkekästen. Angelo schien hinter dieser Bühne abgetaucht zu sein.
Jacopo war inzwischen aufgestanden und verjagte die herbeigeströmten Gaffer, die sich erwartungsvoll einen Fortgang des Schauspiels erhofft hatten. Livia aber wollte nicht aufgeben. Sie lief ein Stück in die Gasse hinein und spähte zwischen den geparkten Autos hindurch.
»Signora! Lassen Sie es. Es hat keinen Zweck«, hörte sie Sannazarros raue Stimme.
Livia kehrte um und ging auf Jacopo zu. »Was hat keinen Zweck, Signore Sannazarro?«
»Ihm nachzulaufen, meine ich.«
»Wem?«
»Diesem Signore É«
»Er war es, nicht wahr?«
Jacopos Mimik blieb ausdruckslos. Lediglich das zögerliche Hochziehen seiner Schultern verriet Livia, dass es Angelo gewesen war. Diese Erkenntnis ließ sie gleichzeitig die Blessuren spüren, die sie sich bei den Stürzen an Hand, Schulter und Knien zugezogen hatte.
»Haben Sie sich verletzt?«, fragte Jacopo aufrichtig besorgt, als er sah, wie Livia sich ihre wunden Stellen rieb. »Wenn Sie wollen, lasse ich Sie nach Hause bringen.«
»Danke, es geht schon.«
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Signora?«
Livia sah ihn an: »Sie wissen doch genau, was Sie für mich tun könnten!«
»Schon gut, Signora Romano.«
Livia lächelte. »Sie verwechseln mich, Signore Jacopo. Vasari É! Ich heiße Vasari.«
Es dauerte eine kleine Weile. Der Kunsthändler blieb stumm. Doch das unerwartet mitfühlende Blinzeln Jacopos versöhnte Livia im gleichen Augenblick mit Mailands Mercantone dellÕAntiquariato.

D
ie Hitze des Tages lastete noch unerträglich in den Straßen Mailands, als Detektiv Carracciolo in seinem Büro ein Bild über den Schreibtisch reichte. »Ist das Ihr Mann?«
Livias Finger zitterten, als sie das glänzende schwarz-weiße Foto betrachtete.
»Angelo É«, flüsterte sie und versuchte ruhig zu wirken. Sie neigte ihren Kopf über das Bild, da sie für einen Moment die Kontrolle über sich zu verlieren glaubte. Angelo war auf der Fotografie nicht allein abgebildet É
»Verzeihen Sie, ich muss Sie das noch einmal fragen! Ist der abgebildete Herr auf dem Foto Signore Angelo Romano? Ist das Ihr Mann, Signora?«
»Ja É ja, natürlich«, erwiderte sie entrückt.
Was ihr in der Seele wehtat, war der entspannte, ja geradezu glückliche Gesichtsausdruck Angelos. Livias Augen ruhten auf der Frau, die mit Angelo offenbar Arm in Arm auf der teuersten Einkaufsmeile, der Via Montenapoleone, bummelte und ihn vergnügt anlachte. Livia meinte unter ihrer Haut zu glühen. Wut keimte in ihr auf. Die Fremde war wohl einige Jahre älter als sie selbst, doch sie schien aus einem Journal entsprungen zu sein, wo gewöhnlich auch Prinzessinnen abgebildet werden - eine durch und durch aristokratische Erscheinung.
»Wer ist sie?«, fragte sie entrüstet und blickte zu Carracciolo. Als sie in die stechenden Augen des Detektivs starrte, wurde ihr bewusst, dass er ihre Reaktionen wie ein Buchhalter registriert hatte.
»Wir wissen es noch nicht. Sie scheinen überrascht. Ist es Ihnen wichtig?«
Livia stand plötzlich auf. Sie wollte sich losreißen, verstohlen hinausschlüpfen aus dem Moment der erniedrigenden Konfrontation. Das Büro wurde ihr zu klein. Der Stuhl musste weg. »Wichtig? Was kann einer verlassenen, betrogenen Ehefrau daran wichtig sein?«
»Die Erfahrung lehrt uns, Signora Romano, dass es nicht so sein muss É«
»Ach, sparen Sie sich Ihre Worte. Ich bin keine chinesische Vase. Ich werde daran nicht zerbrechen.«
»Sollen wir für Sie herausfinden, wer die Frau ist?«
Livia trat ans Fenster und zögerte etwas. Sie wollte sich nicht als ein Mülleimer präsentieren, in den Fremde heineinkippen konnten, was sie wollten. Daraufhin drehte sie sich um und erwiderte schließlich mit fester Stimme: »Nein! Es ist nicht wichtig.« Nach einer kleinen Pause fragte sie: »Haben Sie seine Adresse herausgefunden?«
Luigi Carracciolo zog eine kleine Visitenkarte hervor. »Bitte, setzen Sie sich doch wieder.«
Livia kam seiner Bitte nach und nahm das Kärtchen entgegen. Auf dem weißen Karton war handschriftlich eine Adresse notiert. Sie las: Via Solferino 24 / II. Stock, Appartement rechts. Weißlackierte Tür. Ein Sicherheitsschloss. Kein Namensschild.
»Die Wohnung befindet sich in der Nähe des Cimetero Monumentale«, sagte Carracciolo.
»Wie passend É«
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Ja, bitte. Haben Sie ein Mineralwasser?«
»Haben wir.«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Livia, nachdem Carracciolo das Wasser aus seinem Vorzimmer geordert hatte.
»Über das Wie muss ich schweigen, Signora Romano. Aber wir haben besorgt, was Sie wollten.« Daraufhin zog er aus seiner Jackentasche einen Schlüssel, an dem ein kleiner lederner Anhänger baumelte. »Er treibt die Kosten nach oben.«
Livia war erstaunt über die Schnelligkeit, mit der die Agentur in den vergangenen fünf Tagen gearbeitet hatte. Doch ließ sie das Carracciolo gegenüber nicht spüren. »Ich muss zwar rechnen, doch es ist mir die Sache wert.«
Der Detektiv umschloss den Schlüssel mit seiner Faust. »Wir können ihn nicht offiziell berechnen, Signora. Sie verstehen?«
»Was soll er mich kosten?«
Carracciolo dehnte seine Schultern. »Vierzigtausend!«
Livia schnalzte mit der Zunge. Und nach einer kleinen Pause sagte sie: »Ich denke, die Security ist kein Fischmarkt. Nehmen Sie auch Dollars?«(wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.01.2005