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Zehntausend Dollar! Sofort und hier auf den Tisch É«
De Castro sah sie ungläubig an. Livia legte ihre Tasche ab und nahm eine aufreizende Pose ein.
»Zehntausend É!«, keuchte Silberschopf und warf das restliche Bündel Geldscheine auf den Tisch.
»Ich will fair zu Ihnen sein, Signore de Castro! Die Wirklichkeit ist noch unerreichbarer als die Kunst. Bleiben Sie bei Ihren Fantasien! Denn alles, was ich Ihnen hier vorspielen könnte, wäre schließlich doch nur - gefälscht!«
Livia hastete zum Ausgang. Nach wenigen Schritten hörte sie, wie de Castro hinter ihr herstolperte. »Signora Vasari! So warten Sie doch.«
»Kommen Sie, kommen Sie É«, rief Livia und beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte beobachtet, dass Silberschopf den Schlüssel der Eingangstür bei ihrer Ankunft an der Innenseite stecken gelassen hatte. Die Tür ließ sich mühelos öffnen. Livia sog die frische Nachtluft ein.
»So können Sie mich nicht verlassen«, rief er hinter ihr her.
»Ich komme bald wieder, wegen der restlichen Grafiken!« Livia eilte zu dem geparkten Wagen. Auf halber Strecke sah sie sich um und sah, wie de Castro den Schlüssel abzog. »Vergessen Sie nicht, die Lichter auszumachen und den Safe zu schließen!«, rief sie ihm zu. Ihr Chauffeur war aus dem Wagen gesprungen und hielt Livia den Verschlag auf. »Fahren Sie sofort los!«, gab sie Anweisung.
De Castro stürzte heran und klopfte an die Scheibe. Livia kurbelte sie ein Stück herunter. »Signora, warten Sie einen Moment! Wo und wie erreiche ich Sie?«
»Ich melde mich bei Ihnen. Gute Nacht!«
Bevor der Chauffeur den Motor startete, rief de Castro ihm zu: »Vicenzo! Bring die Venus heil in ihr Appartemento!«
»Kannst dich darauf verlassen, Mauricio«, erwiderte dieser.
Livia benötigte eine Weile, um zu begreifen, was sie gerade vernommen hatte.
»Kennen Sie Signore de Castro?«
»Ja, Signora.«
»Lange?«
»Einige Jahre. Ich fahre oft für seine Geschäftsfreunde und auch Bekanntschaften É«
Verdammt!, fluchte sie innerlich. Aber letztlich war es ihr gleichgültig. Sie hatte es geschafft. Sie hatte erreicht, was sie wollte.
Als sie in der Via Botticelli angekommen war und ihren Fahrer großzügig entlohnt hatte, öffnete sie erschöpft die Tür zu ihrem Appartement.
Kaum dass sie eingetreten war, klingelte das Telefon. Livia zögerte. »Wer kann das sein zu dieser Stunde?«, sagte sie zu sich selbst. Sie überlegte kurz. War es vielleicht jemand von der Security Leonardo? Entschlossen nahm sie den Hörer ab.
»Schade, dass ich Sie nicht mehr richtig verabschieden konnte, Signora Vasari. Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder É«, vernahm sie die belegte Stimme de Castros.
»Ja, schade. Gute Nacht!«, reagierte sie wie von fern und legte auf. Hundert Fragen schossen ihr durch den Kopf É
»Das Geld!« Sie zog alle Vorhänge zu, prüfte die Fenster, vergewisserte sich, dass die Eingangstür abgeschlossen war, und begab sich in das Schlafzimmer. Auf der Bettkante nahm sie die Dollarnoten aus der Tasche. Prüfend rollte sie die Scheine zwischen ihren Händen. Mehrere davon hielt sie gegen das Licht.
»Original oder Fälschung?«, murmelte sie vor sich hin. Nun, dieses Problem würde sich endgültig erst am Montag lösen lassen, wenn die Banken wieder aufmachten.
Erst weit nach Mitternacht fand Livia endlich etwas Entspannung. Die sechzigtausend Dollar ruhten unter ihrem Kopfkissen.
Livia schlug die Augen auf. Sie atmete schnell und brauchte einige Sekunden, um sich klar zu werden, wo sie sich befand. Als sie die Wirklichkeit um sich herum begriff, spähte sie mit einem Auge auf den Wecker, der durch sein fahlgrün leuchtendes Zifferblatt den Stand der Zeit verriet. Langsam streifte sie das Plumeau weg und stemmte sich hoch. Dann setzte sie sich auf die Bettkante, holte das Bündel Dollarnoten unter dem Kopfkissen hervor und warf es in den Sessel, schlüpfte aus ihrem fliederfarbenen Nachthemd und begab sich ins Bad.
Als sie in den Spiegel blinzelte, sagte sie zu sich selbst: Jetzt müsste Signore de Castro dich sehen, ungewaschen, ungeschminkt, mit verquollenen Augen. Und als sie Paste auf ihre Zahnbürste quetschte, gingen ihr die mitternächtlichen Stunden noch einmal durch den Kopf. Der alte Bock hatte in seinem Leben nichts begriffen. Denn über die entscheidenden zwei Dinge sollte ihrer Meinung nach ein Mann mit Eroberungsabsichten nie reden: Sex und Geld É
Livia warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel vor sechs. Sie griff zum Telefon und bestellte sich ein Taxi.
Sonntags kurz nach sechs wirkten die Straßen Mailands wie ausgestorben. Sie ließ sich erst zu den Schließfächern am Bahnhof chauffieren, um die Dollars zu deponieren, und danach zur Piazza XXIV Maggio, wo der Mercatone dellÕAntiquariato aufgebaut wurde. Dort fand sie ein bereits geöffnetes Café und ließ sich an einem Tisch mit Blick auf den Eingang einen Cappuccino servieren. Das war alles, was sie nach dem gestrigen Besuch im Savini begehrte.
Das Café war trotz des frühen Morgens von Schnäppchenjägern gut frequentiert. Einen Augenblick spielte sie mit der Vorstellung, Angelo könnte unerwartet jeden Moment im Eingang erscheinen. Aber das war eher unwahrscheinlich. Livia hegte jedoch zumindest die Hoffnung, mit ihren Nachforschungen auf dem Antiquitätenmarkt das Geheimnis von Angelos Verschwinden ein wenig lüften zu können.
Der Kellner kündigte einen heißen Frühsommertag an und wünschte ihr einen erfolgreichen Tag, als sie das Café wieder verließ. Obwohl die Sonne erst die Wipfel der Bäume und die höchsten Dächer der Häuser am Naviglio Grande in gleißendes Licht tauchte, setzte sie ihre übergroße Sonnenbrille auf, um sich ein wenig zu tarnen. Inzwischen war ihr die Umgebung schon recht vertraut, da sich ja auch die Galerie Pieramanti in unmittelbarer Nähe des Mercatone befand.
Als sich Livia der Kirche Santa Maria delle Grazie al Naviglio näherte, geriet sie zwischen klapprige Lastwagen, überladene Anhänger und Karren, die ein beschauliches Betrachten der Angebote noch nicht zuließen. Dazwischen eilten mehr als ein Dutzend geschäftiger Händler, die ihre Plätze verteidigten, Anhänger hin und her rangierten, wilde Flüche ausstießen, sich wie aufgeblasene Frösche gebärdeten und oft genug ihren Begleiterinnen samt Kindern Anweisungen zubrüllten, was sie als Nächstes heranzuschleppen hatten. Einige waren gerade in schweißgetränkten Hemden dabei, ihre Stände aufzubauen, andere wiederum zogen unter losen Planen den absurdesten Krempel hervor, den sie Stück für Stück wie wertvolle Ikonen auf vorbereiteten Tischen zu platzieren begannen.
In dieser Ecke, so Livias Urteil, handelte jeder mit fast allem. Der Charme dieser Ansammlung kuriosen Gerümpels aller Art lag für Livia darin, dass hier Qualität und Preise noch weit weg von der elitären Auswahl der Kunst- und Antiquitätenläden lagen. Gleichwohl bescherten hier die Vergangenheits-Sehnsüchte eines breiten Publikums, das sich wechselnden Stilrenaissancen und Nostalgiewellen hingab, den Kunsttrödlern immer wieder gute Umsätze. Das verbindende Element zwischen Händler und Käufer war die Hoffnung auf ein gutes Geschäft und die Spekulation auf die Ahnungslosigkeit des jeweiligen Kontrahenten.
Noch hatte sie das Areal nicht gefunden, das einen Hinweis auf Angelo bieten mochte. So wanderte sie weiter, drängte sich hindurch zwischen ersten Gaffern, Kisten und Ständen. Manchmal blieb sie stehen, um die geschäftigen Menschen zu beobachten, die kreuz und quer liefen oder an ihr vorbeidrängten. Endlich, knapp einhundert Meter von den ersten Buden entfernt, entdeckte sie die gesuchten Stände mit Bildern und alten Stichen, die hier unter freiem Himmel dem Publikum dargeboten wurden.
Livia platzierte sich neben einem Stand und wurde unfreiwillig zur Belauscherin zweier Händler, die zwischen Jammern und Lachen über ihre Sorgen sprachen.
»É Millionen Lire werden ausgegeben für kaputte Stühle, gelblackierte Schnuller, rostige Leitungshähne É«
»É genauso ist es! Blech- und Kanisterkunst heißt die Richtung! Hab ich gestern erst gelesen.«
»Wenn es das nur wäre É Sogar Reisigbesen und Staubtücher werden zu moderner Kunst erklärt. Meine Chefärzte, Diplomkaufleute und Rechtsanwälte leeren neuerdings freiwillig ihre Brieftaschen in den feinen Galerien für so etwas aus.«
»Wart ab, die kommen wieder zurück.«
»Bis dahin bin ich pleite.«
»Dann kannst du dich endlich zur Ruhe setzen É«
»Höre ich richtig? Hast du von Ruhe gesprochen? Verdammt! Meine Zeit ist längst noch nicht abgelaufen. Ich erinnere mich noch an deine Worte vor vier Wochen É« Daraufhin parodierte er sein Gegenüber: »ÝDie Gezeiten von Markt und Moden dauern mindestens ein Menschenleben.Ü«
»Davon habe ich nichts zurückzunehmen. Du lebst nur schon zu lange! Das ist das Problem É«
»Mach dich auch noch lustig über mich. Ich bleibe bei der alten Kunst. Einen gelb- oder rotlackierten Schnuller wirst du auf meinem Stand nie zu Gesicht bekommen.«
»Das hoffe ich schwer, du alter Fuchs É«, lachte der andere schallend und schlug ihm auf die Schulter, während dieser ihn auf einen Gegenbesuch zu einem Espresso aufforderte. Anhand der wertvollen Uhren, Anzüge und Schuhe, die die beiden trugen, erkannte Livia, dass sich hier zwei verkaufsschlaue, zu Wohlstand gelangte Händler auf ihre Weise kollegialen Respekt gezollt hatten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 19.01.2005