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Ja, Gavi La Scolca zum Fisch und Biondi Santi zum Lamm.«
»Wie Sie wünschen, Signore.« Claudio ließ den Kugelschreiber schwungvoll über seinen Notizblock gleiten und verneigte sich am Ende wie vor einem Richter.
Silberschopf zeigte sich zufrieden. Er fühlte sich genügend hofiert. Sodann ergriff er das Glas, als ob es etwas zu feiern gäbe, und forderte Livia auf, seinem Beispiel zu folgen. Sie nippte und betrachtete ihn über den Glasrand hinweg. Kein Zweifel, ging es ihr durch den Kopf: Ein Lebemann, ein Schwerenöter, ein Schürzenjäger mit Familie, dessen sexuelles Feuer ab und zu hell im Stammhirn lodert.
Allein der Gedanke, sich mit einem solchen Mann auf ein Rendezvous einzulassen, wäre für Livia unter anderen Umständen ein Albtraum gewesen. Dennoch fühlte sie sich ausnehmend gut - trotz Silberschopf. Sie grübelte, woher das Wohlbefinden rührte, das sie den ganzen Tag über verspürt hatte. Vielleicht leitete sich ihre gute Verfassung von der Überzeugung ab, dass sie letzten Endes die Kontrolle über die Situation behalten würde. Solange sie sich darin nicht irremachen ließ É
»Signore de Castro, wie lange arbeiten Sie schon in diesem Metier als Kunsthändler?«, versuchte Livia das Gespräch in die von ihr gewünschte Richtung zu lenken.
»Lassen Sie mich überlegen É Mhm É! Es müssen inzwischen über zwanzig Jahre sein.«
»Und was ist für Sie das Interessante an diesem Beruf?«
»Also É Neben dem reinen Kunsthandel - ja, wie soll ich es Ihnen erklären - ist es sicher die Begegnung mit interessanten Menschen É Nun, sie sind es eigentlich immer noch, die einen bestärken, sich in diesem Gewerbe zu engagieren É Ja, und nicht zu vergessen das Abenteuer É die Entdeckungen É«
»Ist es nicht auch die Faszination der Kunst?«
»Ach ja É die Kunst É Wissen Sie, Signora Vasari, mit der Faszination ist das so eine Sache É«
Livia bemerkte, wie de Castro immer wieder eine kleine Haarsträhne wegzustreichen versuchte, die ihm in die Stirn rutschte, und beim Sprechen von einer Kunstpause zur nächsten hechelte.
»É mich reizt eher die Lust am Risiko É Natürlich auch das Geld, das sich dabei verdienen lässt. Dafür sind gute Augen und Ohren unentbehrlich«, meinte er und rieb sein Champagnerglas zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Klar! Geld übt immer eine Faszination aus.«
»Signora Vasari, wenn für Sie Faszination der unverkennbare Beweis dafür sein sollte, dass jemand in etwas verliebt ist, dann bin ich heute nicht in meine Arbeit, sondern in andere Dinge verliebt É«
»Der Gavi, Signore de Castro!«, unterbrach Claudio und reichte ein Glas. De Castro probierte. Urteilssicher nickte er ab und wiegte sich gleich darauf zur Arie E lucevan le stelle, die sanft aus versteckten Lautsprechern des Ristorante erklang.
»Wollen Sie gleich den Biondi Santi verkosten, Signore de Castro?«
»Ja, bitte!«
Das Ritual wiederholte sich. Während de Castros Augen den Rotwein zwischen seinen Backen hin und her schob, verwandelten sich seine Augen in Glutpunkte, die Livia körperliches Unbehagen bereiteten. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, ihr Gesicht dem frischen Wind auszusetzen, doch schnell überwand sie diesen Fluchtgedanken. Obwohl ihr de Castro zunehmend widerwärtig wurde, war sie sich klar darüber, dass sich ihre Chancen kaum verbessern würden, wenn sie eine schnelle Entscheidung zu erzwingen suchte. Die Zeit war auf ihrer Seite.
Livia registrierte, wie Silberschopfs Augen etwas zu lange in ihrem Ausschnitt forschten. Im gleichen Moment hätte sie gern seine Gedanken gelesen. Vielleicht, so überlegte sie, ging es ihm gerade durch den Kopf, dass sie schon allein durch das Glas Champagner und einige Gläser Gavi la Scolca zu erobern wäre. Vielleicht bildete er sich ein, dass zu fortgeschrittener Stunde die winzigste Berührung ausreichen würde, und sie würde vor ihm dahinschmelzen.
»Und an Ihrer Arbeit kann Sie nichts beflügeln?«, fragte Livia lächelnd, während sie ihm ihr inzwischen gefülltes Weinglas entgegenstreckte. De Castro stieß an, leerte mit einem kräftigen Zug das halbe Glas und grinste breit.
»Das Einzige, was mich in der Kunst noch beflügelt, Signora Vasari, ist die Erotik É«
»Ist das die Krönung einer zwanzigjährigen Erfahrung?«, erwiderte Livia doppeldeutig.
»Nein, nein. Missverstehen Sie mich nicht. Erotische Malerei kann hintergründig wie ein Kriminalstück sein. Ein raffinierter Leckerbissen, wenn Sie den Ausdruck gestatten.«
»Das kann sicher nur ein Mann so sehen É«
De Castro leerte sein Glas in einem zweiten Zug, ließ es in seiner Hand wippen und blickte versonnen hindurch. »Wem fällt schon auf, dass ein Blümchen neben einem nackten Apoll dem Betrachter erklärt, dass dieser den Tod seines Liebhabers beweint?«
»Was Sie nicht sagen É«
»Oh, und wenn Sie erst das Leben der Meister studieren É«
»Was ist mit den Meistern?«
»Wer weiß, dass Degas, der Meister der Ballettelfen, drastische Bordell-Szenen gemalt hat und van Gogh sich nicht nur zwischen Sonnenblumen, sondern in seinen letzten Jahren immer mehr zwischen Straßennutten herumtrieb? «
»Ich denke, wer sich dafür interessiert, wird das wissen.«
»Ha! Ha! Ja, richtig, Signora Vasari. Alle, die Eros entwickeln für erotische Kunst. Und nicht zu vergessen: Gott Eros sorgt immerwährend für heiße Affären, brennende Verliebtheit, Ehebruch, Betrug und Eifersucht!«
»Damit hat jeder so seine Erfahrungen«, reflektierte Livia. Sie musste unwillkürlich an Angelo denken, aber verdrängte diesen Gedanken. »Aber wenn Sie das so interessiert«, sagte sie rasch, »wundert mich doch, dass ich kein einziges erotisches Gemälde in Ihrer Galerie gesehen habe.«
»Oh, wir haben einen eigenen Raum dafür. Beim nächsten Mal werde ich ihn für Sie öffnen. Privat habe ich natürlich auch einiges. Aber dieses Faible lebe ich gewiss nicht in meiner Arbeit aus.«
Livia tat erstaunt. »Was bestimmt denn nun Ihre Arbeit?«
»Die Frage: echt oder falsch?«
»Echt oder falsch?«, wiederholte Livia unsicher.
»Ja! Und das Entscheidende dabei ist, dass die Überprüfung der künstlerischen Echtheit auch heute noch meist aufgrund von Erfahrungen erfolgt.«
»Aber Erfahrung allein reicht wohl nicht aus.«
»Nicht ganz. Doch sie wird auch in Zukunft niemals entbehrlich sein.«
»Worin liegen denn die technischen Schwierigkeiten, Originale von Fälschungen zu unterscheiden?«
Silberschopf seufzte, vermutlich weil er keine Möglichkeit sah, diese Frage in Richtung seines Lieblingsthemas umzuwidmen. »Fälscher und Forscher nützen die Fortschritte in der Chemie und der Physik gleichermaßen. Das Rüstzeug der Laboratorien, die Ultraviolett-, Infrarot- und Röntgenstrahlen, die Analysen über die Zusammensetzung von Metallen, von Farben und Tinten - auch die Fälscher wissen, was heute möglich ist. Das ist keine Einbahnstraße. Hinzu kommt, dass Naturwissenschaft und Kunstwissenschaft sich oft als Feinde gegenüberstehen. Die Wahrheit bleibt da oft auf der Strecke, was vor allem dem Fälscher nützt É«
Livia lag es auf der Zunge, nach dem Ergebnis der Prüfung ihrer Grafiken zu fragen, doch es wäre ungeschickt gewesen, selbst auf diesen Punkt zu kommen. Stattdessen meinte sie: »Aber es geht doch bestimmt nur um Einzelfälle.«
»Einzelfälle? Liebe Signora Vasari É«
»Ravioli freschi in brodo!«, platzte Claudio dazwischen. »Un poÕ pepe? Parmigiano?«
»TuttÕe due!«, entschied de Castro und betrachtete den Inhalt seines Tellers wie eine wertvolle Ikone. »Lassen Sie uns die Schöpfung des Hauses probieren. Buon appetito!«
»Buon appetito!«, erwiderte Livia.
Als de Castro gekostet hatte, geriet er ins Schwärmen: »Mhmmm! Ich liebe die täglich neuen Varianten der lombardischen Küche samt der Kreativität ihrer Köche!«
»Vorzüglich!«, stimmte Livia zu. »Die venezianische braucht sich allerdings nicht dahinter zu verstecken!«
Silberschopf hob erneut das Glas: »Signora, bedauern wir doch einfach jene, die auf die Genüsse Italiens verzichten müssen.«
Livia lächelte und widmete sich ihren Ravioli.
Als die Teller geleert waren, nahm de Castro den Gesprächsfaden wieder auf. »Die von Ihnen erwähnten Einzelfälle, Signora Vasari, sind leider keine Ausnahmeerscheinungen. Die Geschichte der Fälschungen von Kunstwerken ist so alt wie die Geschichte der Menschheit.« De Castro nippte am Glas und lehnte sich genussvoll zurück. »Wobei man vielleicht einräumen sollte, dass die Grenze zwischen Fälschung und Kunstgewerbe schon immer fließend war.«
»Sie meinen, schon in der Antike?«
»Oh, da gibt es Einiges. Beispielsweise berichtete schon Seneca, dass in Rom ganze Fabriken existierten, die falsche Edelsteine fabrizierten. Ja, und moderne Untersuchungen haben nachgewiesen, dass bereits in vormykenischer Zeit falsche Perlen produziert wurden, die man durch Zusammenschmelzen von Kalk, Magnesia und Kieselsäure herstellte und am Ende nur noch einfärben musste. Das ist aber noch längst nicht alles É«
»Das ist ja interessant! Erzählen Sie!«
»Nun, eine Geschichte, die ich immer wieder gern erzähle, ist die von Domitius Tullus. Der alte Römer konnte offenbar einen ganzen Park mit griechischen Statuen ausstatten. Möglich wurde dies, wie Forschungsergebnisse zeigen, nur durch die technische Virtuosität der Handwerker vor gut zweitausend Jahren und ihre Fähigkeit im Kopieren klassischer Werke. Dies führte dazu, dass die Sammler schon damals von Künstlern und Kunsthändlern betrogen wurden und statt der Originale Nachgemachtes kauften.«
»Aber ihnen muss doch klar gewesen sein, dass das nicht alles echt war.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.01.2005