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Unter der Dusche versuchte sie sich ein wenig zu entspannen. Doch ihre Gedanken kreisten unentwegt um das, was auf sie zukam. Sie wollte die Unberechenbarkeiten des Gesprächs in der Galerie Alberto Pieramanti, das in weniger als zwei Stunden bevorstand, von vornherein so weit wie möglich aus dem Weg räumen. Sie musste den Silberschopf an ihre Leine bekommen - und sie wusste auch schon wie. Die himmlische Aussicht auf ein erotisches Abenteuer gedachte sie ihm einzupflanzen, und dann würden sich die Dinge schon in ihrem Sinne entwickeln. Kein italienischer Macho der alten Schule konnte bei dem Gedanken an eine leichte Eroberung noch einen kühlen Kopf behalten É
Ihrem Ziel entsprechend, prüfte sie kritisch die besten Stücke ihrer Garderobe. Die Wahl fiel auf einen hautengen schwarzen Leder-Minirock. Als sie sich im Spiegel musterte, erschien ihr dieses Kleidungsstück doch allzu offensichtlich ihre Absichten zu verraten. Also wählte sie über die champagnerfarbenen seidenen French Knicker mit den dazu passenden Strümpfen lieber einen Rock, der ihre Oberschenkel gerade noch bedeckte, und dazu hohe schwarze Pumps aus Lackleder.
Noch ein letzter Blick in den Spiegel. Die Mischung stimmte.
Sie wählte eine Ziffernkombination an dem Zahlenschloss ihres Koffers und entnahm ihm einen flachen, äußerst eleganten, aus bordeauxfarbenen Leder bestehenden Transportbehälter für großformatige Objekte. Die Fantasien ihres Opfers in der Galerie Alberto Pieramanti konnten anfangen, auf Reisen zu gehen É

Die raffinierte Kostümierung sollte der Auftakt zu einer schwierigen Operation sein. Falls diese gelang, würde sie ihr die finanzielle Unabhängigkeit für die nächsten Monate, wenn nicht Jahre bescheren. Für ihren Auftritt in der Galerie hatte sie sich eigens einen Mercedes mit Chauffeur angemietet, obgleich die Kosten ihr horrend erschienen. Im Augenblick dachte sie jedoch nicht an ihr schwindsüchtiges Konto, sondern darauf, wie sie Wirkung erzielen konnte.
Als der Chauffeur heraussprang, um Livia den Verschlag zu öffnen, erschien gleichzeitig, wie bestellt, Silberschopf in der Eingangstür zur Galerie. Livia schälte sich elegant aus dem Fond. Eindrucksvoll wie eine antike Statue im modernen Gewand blieb sie vor dem Mercedes stehen. Ihr Auftritt zielte darauf ab, den Herrn, der auf sie wartete, in den gewünschten Gefühlszustand zu versetzen.
»Bringen sie das Köfferchen und parken sie den Wagen in der Nähe«, wies Livia den Chauffeur an, und nach einem Blick zum Eingang hin meinte sie wie beiläufig: »Es wird nicht lange dauern!« Der Fahrer nickte artig, als ob er seiner »Herrin« schon jahrelang ergeben dienen würde. Livia stöckelte durch die geöffnete Tür, während Silberschopf devot seinen Kopf zur Begrüßung neigte und den flachen Transportkoffer vom Chauffeur artig in Empfang nahm.
Livias Einblicke in den Kunstmarkt hielten sich zwar bislang in Grenzen, doch ihr Instinkt sagte ihr, dass Galeristen ein wenig Grandezza liebten. Außerdem gab es eine Regel, die überall galt: Menschen kann man am besten beeindrucken, indem man so auftritt, als wäre man ungeheuer reich. Das letzte Fünkchen Misstrauen erlischt, wenn man so tut, als ob es für einen Routine sei, von Dienern und Schmeichlern umgeben zu sein.
»Ich freue mich, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen«, hörte sie den angenehmen Bariton neben sich. Sie war offenbar die einzige Kundin an diesem Freitagnachmittag.
Vorbei an Wänden voll kostbarer Gemälde führte er Livia in sein Privatbüro. Die Art, wie er ihr die Tür öffnete, hatte etwas Enthüllendes an sich, so, als wollte er sein Allerheiligstes freizügig zur Verfügung stellen. Sein Büro war eine geschmackvolle, jedoch bunte Mischung auserlesener Einrichtungsgegenstände aus den verschiedenen Stilepochen.
»Nehmen Sie bitte Platz, Signora Vasari«, sagte Silberschopf, der den klingenden Namen Mauricio Peroni de Castro trug, und bot Livia einen bequemen Louis-seize-Lehnsessel mit rotem Bezug an.
Livia hatte es für klüger gehalten, nicht unter dem Namen ihres Mannes, sondern unter ihrem Mädchennamen aufzutreten. Sie gab vor, unversehens von ihrer Großmutter, die in Locarno verstorben sei, einen Schatz von Grafikblättern geerbt zu haben. Die Schweizer Herkunft war wichtig. Wie Livia bei ihren Galerie-Visiten durch geschickte Fragen herausgefunden hatte, gab es in der Schweiz weder rechtliche Beschränkungen für den Verkauf noch für den Export von alten Gemälden und Grafiken. So gab sie sich den Anschein, als stünde sie, juristisch gesehen, auf der sicheren Seite.
»Was darf ich Ihnen anbieten, Signora Vasari? Espresso É? Prosecco É?«
»Wasser bitte!«, und mit einem kleinen Augenzwinkern fuhr sie fort: »Sollten wir uns einig werden, Signore de Castro, nehmen wir danach zusammen einen Prosecco. Einverstanden?«
»Mit Vergnügen!«, sang Silberschopf und leckte sich die Unterlippe.
Livia nahm in dem angebotenen Sessel Platz, wobei sich ihr Rock auf eine Länge verkürzte, an der kein Männerauge vorbeikam. Der sanfte Mann mit silbrigem Haar, der eher einem Monsignore glich als einem Kunstsachverständigen, hatte Mühe, seinen Appetit zu verbergen. Livia schätzte den Händler knapp über fünfzig. Offensichtlich war er für den ersten Moment froh gewesen, sein Büro wieder verlassen zu können, um die Getränke zu organisieren. Gefasst kam er zurück und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Doch auch in dieser Position hatte de Castro seine Probleme, da sich das Glimmen in seinen Augen nicht abstellen ließ. Ursache war der immer wieder abwärts gleitende Blick auf jene wunderschön geformten Schenkel, sobald der Augenkontakt zu Livia abbrach.
»Signore de Castro«, begann sie kühl und wechselte aufreizend langsam die Beinstellung, »auf Ihren Wunsch hin habe ich die Grafiken mitgebracht. Es handelt sich dabei um die beiden Originale der Herren Grosz und Matisse.«
Silberschopf stutzte einen Moment. »Und die Kollwitz-Zeichnung?«
»Zwei sollen für heute genügen. Wenn Sie danach Lust auf mehr haben, Signore de Castro, so haben wir alle Zeit É«, sagte sie mit ihrem schönsten Lächeln.
Silberschopf grinste und nickte stumm. Livia wies auf den flachen ledernen Transportbehälter. De Castro legte ihn behutsam auf seinen Schreibtisch, ließ die Verriegelung aufspringen und entnahm den Inhalt.
»Dann wollen wir uns doch einmal ansehen, was für Schätze Sie mir mitgebracht haben.« Während de Castro die erste Grafik aus der Schutzhülle nahm, stellte eine junge Angestellte der Galerie das Tablett mit den Getränken auf einen Beistelltisch.
»Bitte reichen Sie der Signora ihr Glas«, wies de Castro das Mädchen an, ohne den Blick von dem abzuwenden, was er gerade dem Licht aussetzte. »Mhm!«, entfuhr es ihm, »sehr schön!«
Obenauf lag Der Liebeskranke von Grosz, geschaffen 1916. Livia reagierte nicht, sondern nippte gelassen an dem gereichten Wasserglas. Während sich ihre Aufmerksamkeit auf ein überaus beeindruckendes Bildnis einer Frau an der Wand richtete, knipste de Castro eine kleine, doch lichtstarke Tischlampe an, und holte eine große Lupe aus seinem Schreibtisch. Das Bild hinter ihm an der Wand, so viel erkannte sie, war eine Arbeit aus dem fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert und zeigte eine sehr schöne junge Frau, die ihr blondes, zu Zöpfen geflochtenes Haar hoch aufgesteckt trug. Minimum einhunderttausend Dollar - sollte es ein Original sein, taxierte sie das Gemälde in der Münze, die im Kunsthandel als Leitwährung galt É
De Castro ließ währenddessen das Licht seiner Speziallampe aus allen Winkeln auf den Liebeskranken fallen. Er untersuchte das Bild ausgiebig und mit höchster Professionalität. Am Ende prüfte er das Wasserzeichen des Papiers.
Als die Prozedur beendet war, nahm er über die Beine Livias hinweg wieder den Augenkontakt auf.
»Wahrlich ein gutes Blatt, dieser George Grosz, Signora Vasari.«
»Ich mag ihn nicht!«, versetzte Livia.
Ihre Offenheit erstaunte de Castro. »Ich schätze es sehr, Signora Vasari, wenn Kundinnen freimütig ihre wahren Gefühle für Bilder verraten. Ich möchte Ihnen daher genauso offen antworten. Vor vielen Jahren, als ich mir in New York das erste Bild von Grosz ansah, hatte ich auch nicht erwartet, dass ich mich jemals für seine Sehweise begeistern könnte.«
Daraufhin drehte er das Bild um, hielt es seitlich, sodass er darauf deuten konnte.
»Wir hatten vor Jahren selbst einen Grosz aus dem Zyklus Ecce Homo hier in der Galerie hängen. Ich nahm das Blatt und ließ es hier in meinem Büro ein paar Tage auf mich wirken. Schon nach einer Woche wollte ich es nicht mehr abhängen.«
»Wie das, wenn ich fragen darf?«
»Die Optik wandelt sich, sofern man gewillt ist, sich nicht einfach an feststehende, sanktionierte Werte zu halten.«
Livia sah ihn erstaunt an. Am liebsten hätte sie ihm erwidert, dass sie dies für einen verdeckten Angriff hielt. Stattdessen sagte sie ruhig: »Ich habe kein Problem mit meiner Wandlungsfähigkeit, glauben Sie mir.« Silberschopf grinste wie ein Honigkuchenpferd, während Livia fortfuhr: »Doch diese furchtbaren Trivialitäten kann ich nicht ausstehen. Sehen Sie nur: Das blaue Geäder an Kopf und Händen des Mannes, der geschminkte Mund, dazu der Anker über dem Ohr É Ja, und dort ein Gerippe, der unerträgliche schlafende Hund und die Knochen, abgenagt wie dort das Fischgerippe auf dem Teller É«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.01.2005