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Livia blinzelte in den sonnigen Morgen. Bevor sie ihre zweite geschäftliche Verabredung in der Galerie Alberto Pieramanti am späten Nachmittag wahrnahm, wollte sie die Zeit nutzen, um einige Recherchen über das Treiben Angelos in Mailand anzustellen. Danach würde sie ihr kurzfristig angemietetes möbliertes, dafür teures Apartement in der Via Botticelli aufsuchen, um sich für den Termin in der Galerie schick zu machen.
Sie winkte sich ein Taxi herbei, um in die Nähe der Alzaia Naviglio Grande zu kommen. An diesem Vormittag allerdings nicht wegen der Galerie Pieramanti. Ihr Ziel war, sich dort umzuhören, wo Mailand am Wasser lag: dem Areal um die Darsena, das alte Hafenbecken Mailands. Es war Freitag, und das Wochenende lag vor ihr. Ihre Nachforschungen hatten ergeben, dass sich dort am letzten Sonntag jeden Monats ganz Mailand traf, um den Mercatone dellÕAntiquariato, den großen Trödel- und Antiquitätenmarkt, nach Brauchbarem zu durchstöbern. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass es sich lohnen würde, sich dort umzusehen. Vielleicht würde ihr der ausgeflogene Vogel ins Netz gehen. Dass sich ganz in der Nähe auch die Galerie befand, wertete sie eher als Zufall.
Als Livia von der Piazza XXIV Maggio aus zum alten Hafenbecken hinaufstieg, betrat sie, mit einer dunklen Sonnenbrille maskiert, einen der pulsierendsten Stadtteile Mailands, den Mercato comunale. Das Terrain war schon von den Hausfrauen der Metropole umbrandet. Livia stürzte sich in das bunte Gewühl und zwängte sich an malerischen Ständen mit Obst, Gemüse, Salamisorten und an Tischen mit Bergen von Socken und Schafskäse vorbei.
»Costa troppo É!!«
»Mezzo chilo!«
»Lei ha asparagi? Quanto costa?«
»Dove è mùggine É?«
Wortfetzen, die aus allen Richtungen an ihr Ohr drangen, erinnerten sie an den Campo Pescaria in Venedig. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, baute für einen Moment an den Luftschlösschen und dem seelischen Kunstwerk ihrer Hoffnung und dachte an die glücklicheren Tage in jener Stadt im Wasser É
Der würzige Duft von Kräutern und Gewürzen, für jede Frau, die gern kocht, die herrlichste Essenz, die in die Nase dringen kann, lud zum Verweilen ein. Doch das vom Alkohol verblödete Gesicht eines Rotweintrinkers, der lallend auf sie zu wankte und sie in seinem Suff noch zu verfolgen begann, zwang Livia vorzeitig hinüber auf das rechte Ufer des Naviglio Grande. Dabei nahm das Marktgeschrei mit jedem Schritt, den sie tat, wieder ab. Auf der Viale Gorizia blieb sie stehen und genoss den wunderbaren Blick auf die Wasserstraße Mailands. »Hier wird der Schuft auf seinen Fischzügen in Sachen Kunst schon oft gewesen sein«, flüsterte sie vor sich hin. Würde ihr am ersten Wochenende der Flüchtige in die Arme laufen? Es war unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
Livia war sich im Klaren darüber, dass ein Stück harter Arbeit vor ihr lag, wenn sie Erfolg haben wollte. Aus ihrer Umhängetasche entnahm sie einen detaillierten Stadtplan und prägte sich die Zugänge und verschiedenen Querverbindungen zwischen der Strada Alzaia Naviglio Grande und der Via Vigevano ein. Danach wählte sie die besten Standorte aus und markierte sie in der Karte mit einem Kreuzchen.
Sie würde noch ein kleines Fernglas benötigen, ging es ihr durch den Kopf, als sie über die Brücke auf das gegenüber liegende Ufer, die Ripa di Porta Ticinese, gelangte. Von hier aus, dachte Livia, könnte sie die gesamte Uferstraße bequem mit dem Glas absuchen. Allerdings ging sie das Risiko ein, ihn möglicherweise aus den Augen zu verlieren, wenn sie sich im Gedränge erst wieder hinüberkämpfen müsste.
Hinzu kam, dass Angelo aufgrund der laufenden Fahndung sicher seine Verhaltensweise geändert hatte; was bedeutete, die Art seines Erscheinens auf dem Mercatone dellÕAntiquariato würde der eines Fuchses gleichen - von Vorsicht und Umsicht geprägt. Ihn erst einmal zu entdecken würde schwierig genug werden É
Zweimal schritt sie die Ufer ab und prägte sich gleichzeitig das Areal und jede Häuserecke ein. Als sie sich auf den Rückweg machte, schob sich ein weiterer Gedanke in ihr Bewusstsein. Vielleicht würde sie am Sonntag nicht allein an diesem Ort sein. Warum sollte nur sie zu der Einschätzung gekommen sein, Angelo hier zu finden? Vielleicht war ihm ja auch Commissario Metelli hier auf den Fersen.
Livias Gedanken schlugen wilde Kapriolen. Vielleicht waren Metelli und die Zollfahndung sich darüber im Klaren, dass es sich bei Angelo um einen kleinen Fisch handelte, dass er für das, was er tat, nur der Mann war, den man benutzte, dass er eigentlich nicht der war, den sie wirklich haben wollten. Vielleicht wussten sie, dass es weit mächtigere Leute gab, die ihn ausnutzten. Vielleicht benutzten sie Angelo nur ihrerseits, um an die Hintermänner heranzukommen. Vielleicht hielten sie ihn für das schwächste Glied, um an die Quelle der illegalen Kunstgeschäfte heranzukommen. Vielleicht wollte man ihn nur einfangen, um ihm zu zeigen, worauf er sich eingelassen hatte. Vielleicht war das Ziel, ihn zur Mitarbeit zu bewegen, um endlich die Drahtzieher zu erwischen. Vielleicht war sie selbst nur eine von vielen, die hofften, ihn endlich zu fassen. Vielleicht É vielleicht É
Aber das alles half ihr jetzt nicht weiter. Livia versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. An der Viale Gorizia angekommen, dort wo das Geschrei des Marktes wieder deutlich zu hören war, drehte sie sich um und ließ ihren Blick den Noviglio Grande entlangschweifen. Vermutlich würde Angelo, im Gegensatz zu früher, erst dann auftauchen, wenn genügend Menschen ausreichend Deckung boten. Sie jedenfalls würde früh genug vor Ort sein, um festzustellen, an welcher Stelle Gemäldehändler ihre Stände platzierten.
Die helle Glocke des Kirchleins San Gottardo al Corso läutete zur Mittagszeit. Livia ließ sich von einem schwimmenden Restaurant anziehen, das vertäut im Naviglio Pavese lag. Über die Via Ascanio Sforza betrat sie die schmale Anlegebrücke, auf der sie hinüber auf das Deck des Bootes gelangte. Die Aufmerksamkeit an Bord war ihr gewiss. Da sie ohne Begleitung erschien, rissen sich die Kellner darum, ihr den besten Platz an Deck anbieten zu dürfen.
Livia genoss das Summen um sie herum. Während die Pizza serviert wurde, dachte sie darüber nach, wie sie sich künftig auf Angelo einstellen sollte. Wie hingen seine Stärken und Schwächen zusammen? Am Ende kam sie zu dem Ergebnis, dass Großzügigkeit in allen Facetten wohl die auffallendste Stärke war und dass unmittelbar an diese Stärke auch die Schwäche angekoppelt sein musste, auf die zu zielen war.
Sie war sich sicher, dass es früher oder später zu einer Begegnung kommen musste. Darauf wollte sie sich frühzeitig einstellen. Es wäre also falsch, ging es ihr durch den Kopf, gegen seine »Stärke«, die Großzügigkeit im Umgang mit dem Gesetz und im Umgang mit Geldangelegenheiten, zu fechten. Also wollte sie sich darauf konzentrieren, ihm gegenüber in den noch zu regelnden Geldfragen mit Berechnung und Überlegung zu handeln und eiskalt zu kalkulieren.
Sie nahm wiederum ein Taxi, um sich in die Via Botticelli chauffieren zu lassen. Im Appartement angekommen, steuerte Livia sofort auf das Telefon zu. Sie nahm den Hörer ab und lauschte einen Moment. Der vertraute Signalton bestätigte ihr, dass der Draht zur Welt freigeschaltet war. Daraufhin wählte sie Detektiv Luigi Carracciolos Büro an, um ihm ihre Telefonnummer durchzugeben. Es klingelte und klingelte. Sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr.
»Komm schon«, sagte sie ungeduldig in den Hörer, und nach einer Ewigkeit, wie ihr schien, meldete sich der Detektiv. Livia nannte die Zahlenfolge ihrer Telefonnummer, die er beflissen wiederholte.
»Ich erwarte Ihren Rückruf, sobald Sie Erfolg haben«, sagte sie und legte auf.
Erleichtert ließ sie sich in den Liegestuhl aus Holz und Segeltuch fallen, der eher einem Gartenmöbel glich. Zwei metergroße hölzerne Marionetten und drei volkstümliche Heiligenfiguren unterstrichen als ländlich-fröhliche Dekorationsstücke die entspannte, unprätentiöse Atmosphäre des Apartments. Wandhohe Spiegel und weiß bezogene Polstermöbel verschafften die Illusion von Weite und gaben dennoch dem Raum eine gewisse Intimität und Gemütlichkeit.
Livia betrachtete sich im Spiegel. Verführerisch zog sie ihren Rock bis über die Schenkel hoch, streckte langsam ihr linkes Bein und streifte sich, Marlene Dietrich mimend, langsam den halterlosen Strumpf vom wohlgeformten Fuß. Als sie sich kurz darauf auch des rechten Strumpfes entledigt hatte, stand sie auf und lächelte ihr schönstes Lächeln in den Spiegel. Erneut posierte sie davor, indem sie wiederum ihr linkes Bein anhob und ihren Fuß leicht auf die Kante des Tisches setzte, sodass Knie und Schenkel hoch in die Luft ragten. Sie warf aufreizend den Kopf zurück. Livia wusste, kaum ein Mann würde dieser Pose widerstehen können.
Sie war zufrieden, denn sie fühlte sich schön und sinnlich. Vor allem ihr neuer avantgardistischer geometrischer Kurzhaarschnitt betonte sowohl ihre Augen als auch ihre klassische Kopfform und hob sich wohltuend von den wuchernden Farah-Diba-Frisuren ab, deren Perücken und falsche Haarteile in den Straßen Mailands geradezu eine Parade feierten. Außerdem entfielen das ewige Toupieren und der Verschleiß von Batterien penetrant riechender Haarspraydosen. Auf dem Weg zur Dusche ließ sie nacheinander Kleid und weinrote Dessous an sich herabgleiten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.01.2005