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Flutwellen im Atlantik so selten
wie ein Kometen-Einschlag

Institut für Meereskunde: So viele Menschen hätten nicht sterben müssen

Von Dietmar Kemper
Kiel (WB). Ausgerechnet auf hoher See sind Menschen bei Seebeben sicher. Der Direktor des Instituts für Meereskunde in Kiel, Jürgen Willebrand, sagte gestern dieser Zeitung: »Solange Tsunamis übers offene Meer laufen, sind sie nur etwa einen Meter hoch, weil sich die enorme Energie auf vier Kilometer Wassertiefe verteilt.«
Jürgen Willebrand stammt aus Delbrück im Kreis Paderborn. Foto: Spies

Wegen der geringeren Wassertiefe vor der Küste türmten sich die Wellen dagegen hoch auf und verwüsteten alles auf ihrem Weg. Der Naturwissenschaftler betonte, Forscher hätten das Seebeben in Südostasien nicht voraussehen können. »Erdbebenforscher werten alle möglichen Signale aus, unter anderem das Verhalten von Tieren, aber es ist ihnen noch nicht gelungen, ein verlässliches Frühwarnsystem zu entwickeln.«
Allerdings hätten im konkreten Fall zahlreiche Menschenleben in Indien und auf Sri Lanka gerettet werden können. Willebrand: »Nach dem Beben brauchte die Welle drei bis vier Stunden bis zur Küste. Die Zeit hätte reichen müssen, um Menschen aus den betroffenen Gebieten in höher gelegene Gegenden zu bringen.« Weil es in Indien und Sri Lanka keine Katastrophenvorsorge mit eindeutigen Zuständigkeiten gebe, sei der Blutzoll unnötig hoch ausgefallen. Als Konsequenz aus der Tragödie müssten Küstendörfer mindestens zehn Kilometer ins Landesinnere verlegt werden.
Der Tsunami-Warndienst auf der Pazifikinsel Hawaii kann auf Daten des Instituts für Meereskunde zurückgreifen, die von dem Forschungsschiff »Meteor« stammen. Um Erkenntnisse über den Aufbau von Erdplatten und die Entstehung von Beben zu gewinnen, bohrt die Crew den Meeresboden auf. Anhand der Funde lässt sich die Geschichte der ausgewählten Stellen am Grund ermitteln. Ein Großteil des Meeres umgibt Finsternis, weil in eine Tiefe von mehr als 1000 Metern kein Sonnenlicht durchdringt.
Willebrand erläuterte, das Seebeben in Südostasien sei trotz seiner Stärke von 8,9 auf der Richterskala nicht das heftigste der Geschichte gewesen. »Es rangiert unter den zehn schwersten, und deshalb ist das Wort Katastrophe angebracht.« Vor 6000 bis 8000 Jahren habe es eine verheerende Flutwelle an der norwegischen Küste gegeben. Aufsteigende Methan-Gase hätten zu einem Rutsch des Kontinentalabhangs geführt. Auch im Mittelmeer könnten sich Tsunamis bilden, allerdings sei die Wahrscheinlichkeit so gering wie ein Kometen-Einschlag. Generell lasse sich sagen: »Die aktuelle Gefahr für alle Staaten am Atlantischen Ozean ist sehr gering.«
Wissenschaftler hätten keine Anhaltspunkte für eine Zunahme von Tsunamis. Das Phänomen riesiger Flutwellen habe nichts mit globaler Erwärmung zu tun, sondern sei auf Verschiebungen in der Erdkruste zurückzuführen. Deshalb warnte Willebrand davor, das Meer zu verfluchen. Bis in die Neuzeit hinein erklärten Theologen den Ozean als Überbleibsel der Sintflut und werteten Überschwemmungen als Strafe Gottes. In einem Bericht über die Flut in Ostfriesland 1164 steht: »Wie viele Reiche und Vornehme schwelgten im Überfluss, doch unversehens stürzte sie das Unglück mitten ins Meer.«

Artikel vom 30.12.2004