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Ansturm aufs Standesamt

Sozialreform Hartz IV beflügelt den Heiratswunsch

Von Dietmar Kemper
Bielefeld/Paderborn (WB). Während draußen der Schnee rieselte, ließen sich gestern in Bielefeld 15 und in Paderborn neun Hochzeitspaare trauen. Ein Grund für den Ansturm auf die Standesämter ist Hartz IV.

Zwischen Weihnachten und Silvester legen die sechs Standesbeamten in Bielefeld drei Sonderschichten ein und trauen 54 Paare. »In den Vorjahren waren es nur halb so viele«, sagte der Leiter der Eheschließungsabteilung, Jörg Bilstein, dieser Zeitung. Gestern gaben sich die Paare bei Eis und Schnee das Ja-Wort, im Trauzimmer standen Adventsgestecke und der Rathaus-Balkon musste wegen Rutschgefahr geschlossen bleiben.
Wenn der soziale Abstieg drohe, spiele schlechtes Wetter keine Rolle, erklärte Martin Künkler, der Sprecher der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS). Die Zunahme der Hochzeitswünsche kurz vor Jahresschluss hänge mit der Sozialreform Hartz IV zusammen. »Personen, die ab Januar keine Leistungen mehr bekommen, weil ihr Partner gut verdient, stellen sich durch eine Heirat besser.«
Als Beispiel nannte Künkler einen Mann mit Arbeitslosenhilfe, der von Januar an kein Arbeitslosengeld II bekommen wird, weil seine berufstätige Partnerin viel verdient. Dann nämlich falle die »Bedarfsgemeinschaft« aus der staatlichen Unterstützung heraus. Heiraten die beiden, sei der Mann zumindest über seine Frau krankenversichert.
Der Vorteil der Familienmitversicherung werde im nächsten Jahr nicht nur zwischen Weihnachten und Silvester die Zahl der Trauungen anheben, glaubt Jörg Bilstein (53): »Das Phänomen wird verstärkt auftreten. Wenn die Ansprüche an den Staat wegfallen, greifen die Betroffenen auf der Suche nach Sparmöglichkeiten zu jedem Strohhalm.« Unabhängig von Hartz IV heirateten einige der 54 Paare auch aus steuerlichen Gründen, mit Blick auf den Lohnsteuerjahresausgleich. Andere wiederum hätten sich unter dem Einfluss der besinnlichen Adventsstimmung für den Gang zum Standesamt entschlossen.
In Paderborn wurden am 21. Dezember allein zwölf Paare getraut. »Wir haben viel zu tun«, sagte Standesamtsleiterin Monika Vahle stellvertretend für das dreiköpfige Team. Angesichts des Wetters gibt sie zu: »Ich möchte nicht im dünnen Brautkleid in der Kälte stehen.«

Artikel vom 29.12.2004