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Wenn Vertrauen schwindet

Gedanken zur Jahreswende von Präses Alfred Buß

Alfred Buß ist Präses der Ev. Kirche von Westfalen

An der Jahreswende 2004/05 spüren viele Menschen zunehmende Ungewissheit: Die Kurven in Staat, Gesellschaft und Kirche zeigen dauerhaft nach unten. Zu wenige Kinder werden geboren, die Sozial- und Rentenkassen werden klamm, der Generationen- und Gesellschaftsvertrag ist porös, auch die Einnahmen der Kirchen sinken drastisch. Gleichzeitig geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf, hierzulande und weltweit. Das Vertrauen in die Zukunft schwindet mehr und mehr.
Wie im persönlichen Leben Enttäuschungen von Erwartungen zum Verlust von Vertrauen führen können, so kann dies auch im öffentlichen Leben geschehen. Wer oder was ist vertrauenswürdig, wenn Verwertungsinteressen wichtiger sind als ethische Verantwortung, Einschaltquoten Vorrang haben vor Informationspflicht und das Eigeninteresse zunehmend vor das Gemeinwohl gesetzt wird? Die Nebeneinkünfte von Politikern erweisen sich in diesen Tagen wieder einmal als nicht transparent. Es bleibt undurchsichtig, in welchem Maße die wirtschaftlich und politisch Handelnden direkt voneinander abhängig sind. Gleichzeitig müssen Antragsteller auf Arbeitslosengeld II jeden Cent offen legen. Das führt zu einer Erosion des Vertrauens. Vertrauen steht im Zentrum der »Verlegenheiten unserer Zeit«, sagte Johannes Rau in seiner letzten Berliner Rede.
Welchen Ton stimmt in der Krise des Vertrauens die Jahreslosung 2005 an? Sie kommt aus dem Evangelium des Lukas: »Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre« (Lukas 22,32). Das Vertrauen in Menschen und öffentliche Institutionen kann aufhören. Auch der Glaube, also das Vertrauen in Gott, kann aufhören, sagt die Jahreslosung.
Der Glaube ist kein Besitz. Nicht wir tragen den Glauben, sondern der Glaube trägt uns. Zugleich zerren aber Kräfte an uns, die uns unlösbaren Krisen und sinnfernen Erfahrungen aussetzen, uns in Ausweglosigkeit und Zweifel stürzen und den Verlust des Vertrauens und Glaubens zur Folge haben können.
Darum sind Vertrauen und Glauben so verletzbar. Zum Glauben gehört das Hadern, Zweifeln, Verlieren. Dann aber auch das Suchen, das Finden und vor allem das Gefundenwerden. Denn der Glaube kennt ein Gegenüber. Der angefochtene Glaube bittet Gott um das Geschenk neuen Vertrauens und Gottvertrauens.
Die Jahreslosung 2005 rechnet mit der Brüchigkeit unseres Vertrauens. Sie rechnet mit der Brüchigkeit unseres Glaubens. Sie rechnet mit Brüchen in unserem Leben.
Aber sie rechnet auch damit, dass wir füreinander einstehen. Wie gut tut es, wenn jemand zu uns sagt: »Ich habe für dich gebetet« und nicht nur: »Ich habe an dich gedacht«. Nicht nur »Passen Sie auf sich auf«, sondern »Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre.«
Auf der Schwelle eines neuen Jahres kommt es vor allem darauf an, in den Lebens-, Vertrauens- und Glaubensbrüchen die Quelle allen Vertrauens wieder freizulegen. Die Quelle allen Vertrauens ist Gottvertrauen, nicht zuerst Vertrauen auf sich selbst.
Kein Mensch lebt aus sich selbst. Keiner kann von sich aus reden, er muss zuvor hören. Kein Mensch kann von sich aus lieben, er muss zuvor geliebt werden. Kein Mensch kann von sich aus glauben, er muss zuvor angesprochen worden sein. Solcher Glaube verkümmert mit sich allein, denn Vertrauen will in Gemeinschaft gelebt werden, getragen werden von Dialog und gegenseitiger Stärkung. Vertrauen gestaltet Leben.
Gestörtes Vertrauen aber kann nur langsam wieder wachsen. Ohne Vertrauen ist alles nichts. Fehlendes Vertrauen verlangsamt wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe. Misstrauen lähmt eine Gesellschaft bis zum Stillstand. Wenn jeder nur seinen Vorteil mitnimmt und sich gegen andere absichert, kommt nichts Gemeinsames mehr in Schwung.
Das zentrale Nervensystem einer Gesellschaft ist Vertrauen. Es muss intakt sein. Das zeigt sich darin, ob wir uns gegenseitig als verlässlich erweisen oder einander im Stich lassen. Mit ein paar Appellen ist da nichts zu gewinnen. Wir brauchen dazu eine gewandelte Mentalität. Sie beginnt mit der Einsicht: Vertrauen ist ein Schatz.
Darum ist es die wichtigste Aufgabe im neuen Jahr, die Quelle des Vertrauens wieder freizulegen. Solches Vertrauen fängt an, wenn wir füreinander beten, dass der Glaube nicht aufhöre. . .

Artikel vom 31.12.2004