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Leitartikel
Die Flutkatastrophe

Zwischen
Trauer und
Hoffnung


Von Ulrich Windolph
Zwei Finger und der Daumen umklammern die kleine Hand - halten sie krampfhaft fest. Sie ziehen fast an ihr, als wenn es eine Möglichkeit wäre, den geliebten Sohn ins Leben zurückzuholen. Doch es gibt keine Rettung mehr, der Achtjährige ist tot. Trauer, Hilflosigkeit, Verzweiflung, unendliches Leid - das Gesicht des Vaters aus Indien zeigt alles.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen beim Anblick des Fotos ergangen ist. In mir hat das Bild, das am Dienstag auf unserer Titelseite zu sehen war, ein Gefühl der Ohnmacht ausgelöst.
Ein Opfer, von denen es inzwischen 120 000 oder sogar noch mehr gibt. Ein Angehöriger, von denen es sicher Millionen gibt, dazu ungezählte Verletzte und Abermillionen, die vor dem Nichts stehen, Chaos und Zerstörung in unvorstellbarem Ausmaß. Fragen drängen sich auf: Kann man angesichts der furchtbaren Flutkatastrophe in Südasien überhaupt noch Hoffnung haben? Und wenn ja, wie?
Die Antwort liefern die Menschen in aller Welt, und sie lautet: Ja, man kann Hoffnung haben. Die Hilfsbereitschaft der Staatengemeinschaft ist riesengroß, die Welt wird in diesen letzten, so verhängnisvollen Tagen des Jahres 2004 ein bisschen kleiner. Die Menschen rücken zusammen.
Wer nur Egoismus, Neid, Missgunst und Gleichgültigkeit vermutet hat, wird eines Besseren belehrt: Viele Menschen sind gut - Nächstenliebe, Verantwortungsbewusstsein und Mitgefühl sind mehr als leere Worte. Das beweisen auch die zahlreichen kleinen und großen Hilfsaktionen der Menschen in Ostwestfalen-Lippe.
Viele haben den Blick für das Wesentliche offensichtlich doch noch nicht verloren: »Wenn wir den Opfern der Flutkatastrophe nicht helfen können, wer soll es dann tun?«, sagen sie und spenden. Schließlich sind es wieder einmal die Ärmsten der Armen, die am meisten leiden. Jene, die ohnehin schon kaum etwas hatten, verlieren alles.
Freilich, unsere Hilfsbereitschaft braucht großes Stehvermögen: Noch ist das Ausmaß der Schäden gar nicht abzusehen. Hilfe wird auch noch vonnöten sein, wenn längst wieder andere Themen die Schlagzeilen bestimmen. Und die Hilfe darf den Wiederaufbau nicht außer Acht lassen.
Allerdings werden auch unsere Spenden das strukturelle Ungleichgewicht zwischen erster und dritter Welt nicht lösen. Dazu sind ungleich größere Anstrengungen notwendig. Aber sicher ist: Etwas Demut tut gut in diesen Tagen.
Es ist nicht mehr als aufrichtig, sich einzugestehen, dass der Alltag uns wieder einholen wird. Verlangen wir nicht zu viel von uns: Jeder hat sein Leben mit seinen eigenen Problemen. Wenn wir aber nur etwas von der Demut und der Nächstenliebe, dem Verantwortungsbewusstsein und dem Mitgefühl in unseren Alltag retten können, ist viel gewonnen.
In unserer Nachbarschaft und überall auf der Welt gibt es Hilfesuchende genug - und Gründe zu helfen auch.

Artikel vom 31.12.2004